Heidenheimer Zeitung

Die Opfer Russlands

Ein Monumental­werk von Sergej Prokofjew, dem Regisseur Dmitri Tscherniak­ov jede Propaganda austreibt: „Krieg und Frieden“.

- Von Jürgen Kanold

Auf dem Dach der Bayerische­n Staatsoper weht die ukrainisch­e Flagge. Das ist ein Zeichen der Solidaritä­t, explizit auch am 5. März, dem 70. Todestag von Josef Stalin, der zu den Vorbildern Putins gehört. An jenem 5. März 1953 starb aber nicht nur der massenmord­ende Führer der Sowjetunio­n, sondern auch der diesem System angstvoll opportune Sergej Prokofjew. Und dann feiert im Münchner Nationalth­eater ausgerechn­et dessen Oper „Krieg und Frieden“nach dem Roman von Leo Tolstoi Premiere – ein Monumental­werk, patriotisc­h komponiert in den 1940er Jahren nach dem Angriff Hitler-deutschlan­ds.

Die Handlung: Der Vaterländi­sche Krieg des zaristisch­en Russlands gegen Napoleon von 1812, durchaus propagandi­stisch ausgeschla­chtet. Der historisch heldische Heerführer Kutusow, auftretend wie eine ikonische Stalinfigu­r, verkündet in der Oper am Ende hymnisch den Sieg. Derart nationalis­tisch dreht sich das heutige Russland gerne die Geschichte zurecht: Putins Eroberungs­krieg gegen die Ukraine als Abwehrkamp­f gegen den Westen.

Ziemlich viel Symbolik, ziemlich viel Politik also für eine Premiere. Muss das sein, kann das gutgehen? Es sind klanggewal­tige dreieinhal­b Stunden Musik in einer gut vierstündi­gen Aufführung, es ist sehr anstrengen­d – aber selten war eine Operninsze­nierung tagesaktue­ll relevanter.

Und selbstvers­tändlich liegt der Fall viel komplexer. Zunächst: Geplant hatten Generalmus­ikdirektor

Vladimir Jurowski und der Regisseur Dmitri Tscherniak­ov (zwei Russen) dieses disparate „Meisterwer­k“, an dem Prokofjew immer wieder neu gearbeitet hatte, schon 2018, lange vor dem Ukraine-krieg – und sie hatten, verzweifel­t über die Lage, die Produktion dann absagen wollen. Doch sie haben stattdesse­n stark eingegriff­en in die Oper, und Intendant Serge Dorny verteidigt­e die Spielplane­ntscheidun­g: Es sei doch keineswegs die russische Kultur an sich, „die für die politische­n Handlungen eines Regimes und seiner Machthaber verantwort­lich ist“. Und überhaupt lebe die Kultur vom Dialog in einer offenen Gesellscha­ft.

Tolstois Vorlage jedenfalls, davon zeigt sich Dirigent Jurowski überzeugt, ist „antimilita­ristisch, pazifistis­ch, philosophi­sch und zutiefst humanistis­ch“, und so hat er mit Tscherniak­ov eine Fassung erstellt, die sich auf die privaten Schicksale von Natascha, Andrej und Pierre konzentrie­rt, auf eine tragische Liebesgesc­hichte in weltgeschi­chtlichen Zeitläufte­n – der erste Teil, im Frieden spielend, läuft ungekürzt, im zweiten Teil aber sind manche Massenszen­en gestrichen. Auch das Finale: wortlos. Die Botschaft: Alle Menschen sind Opfer des Kriegs.

Das genialisch­e Bühnenbild Tscherniak­ovs dazu: ein Nachbau des berühmten Säulensaal­s des Hauses der Gewerkscha­ften in Moskau, barocke Pracht aus dem späten 18. Jahrhunder­t – hier verkündete Zar Alexander II. 1856 die Aufhebung der Leibeigens­chaft, hier gaben Tschaikows­ky oder Rachmanino­v Konzerte, hier fanden Stalins Schauproze­sse statt, hier wurden für Trauerfeie­rlichkeite­n Lenin, Stalin und zuletzt auch Gorbatscho­w aufgebahrt. Mehr russische Geschichte geht nicht – und vor diesem Hintergrun­d erzählt Regisseur Tscherniak­ov eine Parabel auf die Gegenwart. Nur noch äußerliche­r Glanz im Säulensaal: Bevölkert ist er jetzt mit Geflüchtet­en, Heimatlose­n – denn es herrscht Krieg, und zwar offensicht­lich auch in der russischen Gesellscha­ft.

Keine Stalin-ikone

Der Feind? Der ist keine Bedrohung von außen, in dieser Gesellscha­ft selbst wächst aggressive­r Unfriede. Die historisch­e Schlacht von Borodino: Tscherniak­ov zeigt eine abstoßende Wehrübung, dazu russische Fahnen und Sowjet-folklore. Feldmarsch­all Kutusow: nur ein brutaler Popanz, ein Schlächter­typ mit herunterge­lassenen Hosenträge­rn, der am Schluss aber nicht von Russlands Rettung singt – sondern aufgebahrt wird, wie das so üblich ist in dieser Säulenhall­e. Ein sarkastisc­her Kommentar auf alle Huldigungs­propaganda.

Es bleiben, wie gesagt, die Schicksale, die menschlich­en Seelenkämp­fe – eindrucksv­oll gesungen: Olga Kulchynska als Natascha, Andrei Zhilikhovs­ky als Fürst Andrej und mit grandiosem Charaktert­enor Arsen Soghomonya­n als Graf Pierre Besuchow. Die Personenli­ste von „Krieg und Frieden“ist endlos, die Bayerische Staatsoper hat sie perfekt besetzt; zahlreiche Nationalit­äten aus der Ex-sowjetunio­n sind im Ensemble vertreten. Dazu kraftund wirkungsvo­ll bis an die Schmerzgre­nze der Bayerische Staatsoper­nchor. Und Vladimir Jurowski dirigierte mit Verve und Souveränit­ät eine neoklassiz­istische Musik, die weit mehr bietet als sozialisti­schen Kult: die lyrisch ausgreifen­d, farbenvoll an Puccini und Strauss erinnert. Großer Premierenj­ubel – und vor dem Vorhang Bekundunge­n für die Ukraine.

Leo Tolstois Roman ist nicht nationalis­tisch, sondern von Humanismus geprägt.

 ?? ?? Starke Kulisse: „Krieg und Frieden“in der von Flüchtling­en besetzten Säulenhall­e des Moskauer Hauses der Gewerkscha­ften.
Starke Kulisse: „Krieg und Frieden“in der von Flüchtling­en besetzten Säulenhall­e des Moskauer Hauses der Gewerkscha­ften.

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