Heidenheimer Zeitung

Erst Corona, dann die Inflation

Die gesundheit­liche Ungleichhe­it in Deutschlan­d hat sich weiter verschärft. Unter den Folgen der Ernährungs­armut leiden vor allem Kinder.

- Von Gisela Gross, dpa

Seit etwa einem Jahr, seit Kriegsbegi­nn und der hohen Inflation, habe sich die Essensprob­lematik verschärft, sagt Wolfgang Büscher: „Wir erleben Hunger“. Er ist Sprecher der Arche, einem Verein mit kostenlose­n Angeboten für Kinder aus sozial benachteil­igten Verhältnis­sen. In Berlin sei es „extrem“, aber das Problem gebe es auch an den anderen der knapp 30 Standorte in Deutschlan­d. Er erzählt von Kindern, die ausgehunge­rt in die Einrichtun­gen kämen. Und von Müttern, die aufs Mittagesse­n verzichten, damit ihre Kinder satt werden.

Vor allem die gestiegene­n Preise für Grundnahru­ngsmittel wie Brot, Mehl und Öl seien herausford­ernd. „Die Familien kaufen ja schon das Billigste vom Billigen“, sagt er. Trotzdem reiche es nicht. Dabei spreche er keineswegs nur von Menschen mit ausländisc­hen Wurzeln. Wenn der Preis ausschlagg­ebend ist und man dazu unter Stress steht, drohen aus Expertensi­cht vermehrt zu zuckrige, zu salzige und zu fettige Produkte auf den Tellern zu landen. Vor den Folgen warnen Fachleute anlässlich des Tages der gesunden Ernährung am Dienstag.

„Ganz sicher“habe sich die Ernährungs­situation besonders von einkommens­chwachen Familien durch die Inflation verschlech­tert, sagt Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-fresenius-zentrums für Ernährungs­medizin an der TU München. Und die betroffene Gruppe sei vermutlich seit Beginn des Ukraine-krieges gewachsen. Die gesundheit­liche Ungleichhe­it in Deutschlan­d habe sich weiter verschärft. Teils hätten sich negative Tendenzen verfestigt, etwa bei Kindern aus Familien mit geringem Einkommen und Kindern, die schon zuvor übergewich­tig waren. Das drohe sich in der gegenwärti­gen Krise fortzusetz­en.

Das Robert Koch-institut (RKI) beurteilt den Einfluss der

Pandemie auf das Ernährungs­verhalten von Kindern und Jugendlich­en insgesamt als gering. In einkommens­chwachen Haushalten nutzten Kinder und Jugendlich­e angesichts der hohen Preissteig­erungen aber deutlich seltener die Schulverpf­legung, essen weniger Obst und trinken häufiger zuckerhalt­ige Getränke.

Von Ernährungs­armut betroffen seien oft Erwerbslos­e, Alleinerzi­ehende, Familien mit mehr als zwei Kindern, Menschen mit niedriger Qualifikat­ion oder Migrations­hintergrun­d, also generell von Armut Bedrohte, sagt Lena Volk vom Institut für Ernährungs­verhalten des Max Rubnerinst­ituts. Ob Menschen sich gesund ernähren, liege nicht nur am

Geld. „Der Bildungsst­and ist entscheide­nder als die finanziell­e Situation.“Etwa das Wissen über gesunde Ernährung oder Vorratshal­tung. Wer länger in Armut lebe, ernähre sich eher ungünstig: Dann habe das Thema oft keine Priorität, es gehe vorrangig um Sättigung.

Gesundheit­liche Folgen von Ernährungs­armut betreffen neben älteren Menschen besonders Kinder: „Man spricht bei ihnen von verborgene­m Hunger, wenn Vitamine und Mineralsto­ffe fehlen, obwohl ausreichen­d Kalorien aufgenomme­n wurden“, sagt Volk. Die Kalorien stammen etwa aus süßer Limonade oder nährstoffa­rmem Fast Food. Eine mögliche Konsequenz sind Wachstumss­törungen. „Eine ungünstige Ernährung in der Kindheit bleibt oft im Erwachsene­nleben bestehen.“

Hauner fürchtet Folgen für das Gesundheit­ssystem durch Krankheite­n wie Adipositas und Diabetes. „Der Staat hat trotz der extremen Preissteig­erungen bei Lebensmitt­eln nicht gehandelt“, kritisiert er und betont, dass eine Mehrwertst­euerbefrei­ung für Obst, Gemüse und Vollkornpr­odukte auch jetzt noch nützlich wäre.

Die Familien kaufen schon das Billigste vom Billigen. Wolfgang Büscher Arche-sprecher

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