„Das Versprechen von Freiheit zerbricht“
Formal haben wir in Deutschland die Gleichstellung von Männern und Frauen erreicht, sagt die Geschlechterforscherin. Im Alltag sei die Abwertung von Frauen aber noch sehr präsent. Ein Gespräch über Chancen und Erschöpfung – und was das für junge Frauen he
Einen vollen Terminkalender kennt Franziska Schutzbach. Und so fällt der erste Terminvorschlag für ein Interview auf die Zeit während einer langen Zugfahrt. Weil das Gespräch dann am Lärmpegel scheitert, gilt der zweite Versuch dem späten Abend: nach dem Abendessen mit den Kindern und dem Blick in die Schulaufgaben. Auch die Schweizer Soziologin steht vor der Aufgabe, Privates und Berufliches unter einen Hut zu bringen. Sie weiß, wovon sie als Wissenschaftlerin spricht.
Frau Schutzbach, Frauen haben heute mehr Möglichkeiten denn je. Gibt es für Sie denn überhaupt einen Grund zur Klage?
Ja und nein. Wenn wir uns mit Frauen im Iran vergleichen, fällt die Antwort anders aus, als wenn wir uns auf die Gesetzeslage in Deutschland beziehen. Formal haben wir hierzulande Gleichstellung erreicht. Doch wenn wir die Praxis anschauen, sehen wir, dass vieles schlicht nicht umgesetzt worden ist: von der Lohngleichheit bis zur Gleichstellung in der Politik. Und dann gibt es noch den kulturellen Aspekt. Stichwort: Sexismus. Dieser sitzt tief in den Poren der Gesellschaft. Die abwertende Perspektive auf alles Weibliche ist weitverbreitet. Sie hat Folgen im Alltag, zum Beispiel bei den beruflichen Möglichkeiten von Frauen. Und dann natürlich das ganz große Thema unbezahlte Sorgearbeit. Da haben Frauen allen Grund zur Klage. Dass Frauen so viel kostenlos arbeiten, wirkt sich aus auf ihr Einkommen und ihre Rente. Da gibt es eine handfeste ökonomische Benachteiligung.
Trotzdem empfinden sich Frauen mehr denn je als finanziell unabhängig, selbstbestimmt, leistungsstark. Sind das Trugbilder?
Die Kulturwissenschaftlerin Angela Mcrobbie schreibt in diesem Zusammenhang von der „Fratze der Emanzipation“. Sie meint damit das Versprechen, dass Frauen jetzt alles dürfen und können. Gleichzeitig ist dadurch ein unglaublicher Druck entstanden, extrem widersprüchlichen Rollenerwartungen entsprechen zu müssen. Das bestätigt die Mädchenforschung. Sehr junge Frauen sagen bereits: Ich habe das Gefühl, ich muss allem gerecht werden, ich muss immer toll aussehen, ich muss Karriere machen. Und gleichzeitig soll ich auch noch die ganze Erwartung von Fürsorglichkeit bedienen. Das große Versprechen von Freiheit zerbricht an der Realität, an Abhängigkeitsverhältnissen, schlecht bezahlten Berufen. Das Märchen von Freiheit unterschlägt auch, wie stark Menschen eingebunden sind in Strukturen wie ihre Herkunft, ihre soziale Schicht. Es ist nicht so einfach, aufzusteigen. Auch haben Menschen mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Netzwerkvoraussetzungen, sie müssen sich oft alles völlig neu aufbauen. Diese Vorstellung, man könne so einfach vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen, ist eine neoliberale Lüge, mit der Menschen auf Trab gehalten werden.
Lassen sich Frauen besonders gerne von dieser Lüge blenden?
Viele Frauen haben das Gefühl, jetzt, da sie angeblich alles dürften und könnten, müssten sie auch alles schaffen. Sie haben enorme Schuldgefühle, wenn sie scheitern oder erschöpft sind. Ferner gibt es diese heterosexuelle Liebesfalle, dass also viele Menschen denken, mit Liebe regeln sich die Dinge von selbst. Sie fragen sich und ihre Partner nicht: Haben wir die gleichen Vorstellungen von der Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit? Die Frage ist, warum Menschen hier so wenig Pragmatismus einbringen und keine klaren Vereinbarungen treffen. Dahinter steht letztlich die Annahme, der private Bereich würde sich vom ökonomischen unterscheiden, man müsste nur bei der Erwerbsarbeit ökonomisch denken. Das ist falsch. Ohne Sorgearbeit, ohne das Gebären und Großziehen von Kindern, könnte so etwas wie Wirtschaft nicht stattfinden, könnten keine Profite erarbeitet werden. Davon profitiert der Markt: Er wertet Care-arbeit ab und verlagert sie ins Private als unbezahlten Liebesdienst. Wenn der Markt diese 16,4 Milliarden Stunden Fürsorgearbeit, die pro Tag weltweit geleistet werden, bezahlen müsste, müsste er Profite in diese Arbeit umverteilen. Nicht verwunderlich ist da, dass auch die berufliche Pflegeund Sorgearbeit abgewertet und unterbezahlt ist.
Kommt die Erschöpfung aus Überforderung oder davon, dass Frauen möglicherweise ein
anderes Verhältnis zum Scheitern haben?
Mehrere Faktoren spielen eine Rolle. Heute müssen Frauen meist erwerbstätig sein, damit die Familie über die Runden kommt. So bleibt weniger Zeit für Betreuungs- und Hausarbeit. Sorgetätigkeiten werden dann unter immer mehr Zeitdruck und Stress verrichtet und werden damit zur Last. Dann kommen auch noch Geschichten wie Digitalisierung und permanente Verfügbarkeit im Job ins Spiel. Das führt zu einem unfassbaren Zeitmangel. Der oftmals verinnerlichte Perfektionismus verschärft diese Situation noch. Wir dürfen nicht vergessen, dass Frauen auch deshalb oft so perfektionistisch sind, weil sie die Erfahrung machen, dass Nachlässigkeit zu Sanktionen führt. Wie schnell werden sie als Rabenmutter gebrandmarkt!
Woher kommt die weitverbreitete Vorstellung, nicht zu genügen?
Aus der Geschlechtergeschichte. Frauen wurden lange als zweitrangig betrachtet. Der Kern des Patriarchats beruht ja darauf, Frauen abzuwerten. Und deswegen überrascht es nicht, dass Frauen dieses Gefühl übernehmen. Ihnen wird auch heute noch oft suggeriert: Du bist nicht gut genug. Es ist noch nicht lange her, da herrschte die Meinung vor, Frauen seien weniger gut im Denken, weil sie angeblich durch ihre Hormone gesteuert sind. Die Auswertung von Lebensläufen zeigt, dass bei exakt gleichen Qualifikationen der von Frauen generell schlechter bewertet wird als der von Männern.
Was stärkt ein positives Frauen-selbstbild?
Vorbilder, dass also Frauen selbstverständlich in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen sind. Ferner müsste die Abwertung von Mädchen ein Ende haben. Sie hören schon in der Schule: Du rennst ja wie ein Mädchen. Oder: Das ist Mädchenmusik. Das prägt.
Jede Person ist unterschiedlich belastbar. Ist Erschöpfung nicht eher ein individuelles Phänomen denn ein gesellschaftliches?
Beides. Menschen sind unterschiedlich widerstandsfähig. Daneben gibt es Erschöpfung aber auch als Lebensgefühl, das unabhängig von individuellen Dispositionen existiert. Sie ist eine normale und im Prinzip gesunde Reaktion auf die ausbeuterischen Verhältnisse und auf die multiplen Anforderungen, die in besonderem Maße auf Frauen lasten.
Ist Erschöpfung auch eine Generationensprich Altersfrage?
Generationendiagnosen finde ich immer etwas unterkomplex. Wir sehen, dass Frauen aus verschiedenen Generationen gegen ihre fortdauernde Diskriminierung aufbegehren und sich weltweit neue feministische Bewegungen gebildet haben: die feministischen Streiks in der Schweiz, #Metoo oder in Lateinamerika „Ni Una Menos“. Frauen sind nicht mehr bereit so zu tun, als wäre alles erreicht.
In der Öffentlichkeit sind Frauen überall präsent. Hat das auch Schattenseiten?
Frauen gestalten heute mit. Allerdings sind viele Männer im Gegenzug nicht bereit, entsprechend mehr Care-arbeit zu übernehmen. Die Hauptzuständigkeit für die Familie liegt weiter bei den Frauen.
Aber es gibt immer mehr Väter, die sich einbringen …
Ja, da gibt es Fortschritte. Doch oft wird unterschlagen, dass Männer häufig in der Assistentenrolle verharren und nicht im gleichen Maß die Verantwortung fürs An-alles-denken übernehmen. Sie putzen das Bad, kaufen ein. Doch wirklich erschöpfend sind nicht einzelne Tätigkeiten. Es ist die Aufgabe, den Überblick zu bewahren. In der Familie bleiben die Frauen meist die Projektleiterinnen: Sie wissen, wann die Großeltern auf Besuch warten, welches Kind zum Schwimmunterricht gefahren werden muss. Wenn man genau hinschaut, leisten Frauen oft die Vorarbeit für Entscheidungen. Sie recherchieren zum Beispiel stundenlang zu einem Kita- oder Pflegeplatz oder einem Urlaubsort, ehe dann gemeinsam eine Entscheidung gefällt wird. Hinzu kommt: Aktive Väter machen oftmals tolle Sachen mit den Kindern – Ausflüge, in den Zoo gehen. Die routinebehafteten Aufgaben wie Hausaufgabenbetreuung oder Kochen bleiben meist den Frauen.
Sie sind selbst Mutter. Was ist wichtig für Mädchen, um gut ins Leben zu starten?
Ein gutes Selbstwertgefühl. Da haben Eltern eine wichtige Aufgabe. Wir haben zudem versucht, bei der gleichberechtigten Aufteilung der Hausarbeit Vorbilder zu sein. Dass das im Alltag ausgehandelt
Männer verharren im Haushalt gerne in der Assistentenrolle. Die Aufgabe der Projektleiterin bleibt bei den Frauen.
Sichtbarkeit geht immer einher mit dem Risiko, bewertet und abgewertet zu werden.
werden muss und sich nicht einfach selbstverständlich erledigt, dürfen Kinder ruhig erfahren. Väter sollten zudem versuchen, vor ihren Kindern nicht sexistisch über Frauen zu reden und ihre Partnerin auf Augenhöhe zu behandeln.
Junge Menschen leben stark digital. Schwächt oder stärkt das junge Frauen?
Die permanente Vergleichbarkeit mit anderen in den sozialen Medien ist herausfordernd. Junge Menschen sehen dort Inszenierungen von einem tollen Leben, viele nehmen das zum Maßstab. Das bedeutet, sie vergleichen sich ständig mit Unerreichbarem. Das hinterlässt das Gefühl, nicht zu genügen, nicht schön genug zu sein. Bei jungen Frauen kann das zu einem selbst-abwertenden Körperbild führen. Auf der anderen Seite ermöglichen soziale Netzwerke Selbstermächtigung. Menschen können sich zum Beispiel einfach politisch engagieren. Da gibt es faszinierende Möglichkeiten.
Befördern Influencerinnen, die Beauty-themen zu ihrem Geschäft machen, ein Rollback in der Geschlechterdebatte?
Einige feministische Denkerinnen vertreten diese These. Sie betonen, dass die erneute Reduktion von Frauen auf den Körper eine Schwächung für Frauen bedeutet. Denn viel Energie wird dann für Äußerliches aufgewendet. Diese Energie fehlt für anderes.
Zahlen Frauen einen Preis für ihre Sichtbarkeit in der digitalen und der realen Welt?
Sichtbarkeit geht immer einher mit dem Risiko, bewertet und abgewertet zu werden. In einer patriarchalen Welt bestimmt noch immer der männliche Blick, was schön, richtig und gut ist. Auch Frauen haben diesen bewertenden Blick verinnerlicht und wenden ihn oft auf sich selbst oder andere Frauen an. Trotzdem ist es wichtig, sich öffentlich zu äußern und zu zeigen.
Bewertung, aber auch massiver Hass . . .
Der kommt dazu. Frauen, die sich positionieren, werden schneller mit Hass angegangen als Männer. So sollen sie auf ihre Plätze zurückverwiesen werden.
Was wäre eine angemessene Reaktion darauf? Rückzug?
Nein. Aber angegriffene Frauen brauchen Unterstützungsnetzwerke. Wenn Frauen sich verbünden, können sie mehr wagen.