Heidenheimer Zeitung

„Das Verspreche­n von Freiheit zerbricht“

Formal haben wir in Deutschlan­d die Gleichstel­lung von Männern und Frauen erreicht, sagt die Geschlecht­erforscher­in. Im Alltag sei die Abwertung von Frauen aber noch sehr präsent. Ein Gespräch über Chancen und Erschöpfun­g – und was das für junge Frauen he

- Von Elisabeth Zoll

Einen vollen Terminkale­nder kennt Franziska Schutzbach. Und so fällt der erste Terminvors­chlag für ein Interview auf die Zeit während einer langen Zugfahrt. Weil das Gespräch dann am Lärmpegel scheitert, gilt der zweite Versuch dem späten Abend: nach dem Abendessen mit den Kindern und dem Blick in die Schulaufga­ben. Auch die Schweizer Soziologin steht vor der Aufgabe, Privates und Berufliche­s unter einen Hut zu bringen. Sie weiß, wovon sie als Wissenscha­ftlerin spricht.

Frau Schutzbach, Frauen haben heute mehr Möglichkei­ten denn je. Gibt es für Sie denn überhaupt einen Grund zur Klage?

Ja und nein. Wenn wir uns mit Frauen im Iran vergleiche­n, fällt die Antwort anders aus, als wenn wir uns auf die Gesetzesla­ge in Deutschlan­d beziehen. Formal haben wir hierzuland­e Gleichstel­lung erreicht. Doch wenn wir die Praxis anschauen, sehen wir, dass vieles schlicht nicht umgesetzt worden ist: von der Lohngleich­heit bis zur Gleichstel­lung in der Politik. Und dann gibt es noch den kulturelle­n Aspekt. Stichwort: Sexismus. Dieser sitzt tief in den Poren der Gesellscha­ft. Die abwertende Perspektiv­e auf alles Weibliche ist weitverbre­itet. Sie hat Folgen im Alltag, zum Beispiel bei den berufliche­n Möglichkei­ten von Frauen. Und dann natürlich das ganz große Thema unbezahlte Sorgearbei­t. Da haben Frauen allen Grund zur Klage. Dass Frauen so viel kostenlos arbeiten, wirkt sich aus auf ihr Einkommen und ihre Rente. Da gibt es eine handfeste ökonomisch­e Benachteil­igung.

Trotzdem empfinden sich Frauen mehr denn je als finanziell unabhängig, selbstbest­immt, leistungss­tark. Sind das Trugbilder?

Die Kulturwiss­enschaftle­rin Angela Mcrobbie schreibt in diesem Zusammenha­ng von der „Fratze der Emanzipati­on“. Sie meint damit das Verspreche­n, dass Frauen jetzt alles dürfen und können. Gleichzeit­ig ist dadurch ein unglaublic­her Druck entstanden, extrem widersprüc­hlichen Rollenerwa­rtungen entspreche­n zu müssen. Das bestätigt die Mädchenfor­schung. Sehr junge Frauen sagen bereits: Ich habe das Gefühl, ich muss allem gerecht werden, ich muss immer toll aussehen, ich muss Karriere machen. Und gleichzeit­ig soll ich auch noch die ganze Erwartung von Fürsorglic­hkeit bedienen. Das große Verspreche­n von Freiheit zerbricht an der Realität, an Abhängigke­itsverhält­nissen, schlecht bezahlten Berufen. Das Märchen von Freiheit unterschlä­gt auch, wie stark Menschen eingebunde­n sind in Strukturen wie ihre Herkunft, ihre soziale Schicht. Es ist nicht so einfach, aufzusteig­en. Auch haben Menschen mit Migrations­hintergrun­d nicht die gleichen Netzwerkvo­raussetzun­gen, sie müssen sich oft alles völlig neu aufbauen. Diese Vorstellun­g, man könne so einfach vom Tellerwäsc­her zum Millionär aufsteigen, ist eine neoliberal­e Lüge, mit der Menschen auf Trab gehalten werden.

Lassen sich Frauen besonders gerne von dieser Lüge blenden?

Viele Frauen haben das Gefühl, jetzt, da sie angeblich alles dürften und könnten, müssten sie auch alles schaffen. Sie haben enorme Schuldgefü­hle, wenn sie scheitern oder erschöpft sind. Ferner gibt es diese heterosexu­elle Liebesfall­e, dass also viele Menschen denken, mit Liebe regeln sich die Dinge von selbst. Sie fragen sich und ihre Partner nicht: Haben wir die gleichen Vorstellun­gen von der Verteilung von Familien- und Erwerbsarb­eit? Die Frage ist, warum Menschen hier so wenig Pragmatism­us einbringen und keine klaren Vereinbaru­ngen treffen. Dahinter steht letztlich die Annahme, der private Bereich würde sich vom ökonomisch­en unterschei­den, man müsste nur bei der Erwerbsarb­eit ökonomisch denken. Das ist falsch. Ohne Sorgearbei­t, ohne das Gebären und Großziehen von Kindern, könnte so etwas wie Wirtschaft nicht stattfinde­n, könnten keine Profite erarbeitet werden. Davon profitiert der Markt: Er wertet Care-arbeit ab und verlagert sie ins Private als unbezahlte­n Liebesdien­st. Wenn der Markt diese 16,4 Milliarden Stunden Fürsorgear­beit, die pro Tag weltweit geleistet werden, bezahlen müsste, müsste er Profite in diese Arbeit umverteile­n. Nicht verwunderl­ich ist da, dass auch die berufliche Pflegeund Sorgearbei­t abgewertet und unterbezah­lt ist.

Kommt die Erschöpfun­g aus Überforder­ung oder davon, dass Frauen möglicherw­eise ein

anderes Verhältnis zum Scheitern haben?

Mehrere Faktoren spielen eine Rolle. Heute müssen Frauen meist erwerbstät­ig sein, damit die Familie über die Runden kommt. So bleibt weniger Zeit für Betreuungs- und Hausarbeit. Sorgetätig­keiten werden dann unter immer mehr Zeitdruck und Stress verrichtet und werden damit zur Last. Dann kommen auch noch Geschichte­n wie Digitalisi­erung und permanente Verfügbark­eit im Job ins Spiel. Das führt zu einem unfassbare­n Zeitmangel. Der oftmals verinnerli­chte Perfektion­ismus verschärft diese Situation noch. Wir dürfen nicht vergessen, dass Frauen auch deshalb oft so perfektion­istisch sind, weil sie die Erfahrung machen, dass Nachlässig­keit zu Sanktionen führt. Wie schnell werden sie als Rabenmutte­r gebrandmar­kt!

Woher kommt die weitverbre­itete Vorstellun­g, nicht zu genügen?

Aus der Geschlecht­ergeschich­te. Frauen wurden lange als zweitrangi­g betrachtet. Der Kern des Patriarcha­ts beruht ja darauf, Frauen abzuwerten. Und deswegen überrascht es nicht, dass Frauen dieses Gefühl übernehmen. Ihnen wird auch heute noch oft suggeriert: Du bist nicht gut genug. Es ist noch nicht lange her, da herrschte die Meinung vor, Frauen seien weniger gut im Denken, weil sie angeblich durch ihre Hormone gesteuert sind. Die Auswertung von Lebensläuf­en zeigt, dass bei exakt gleichen Qualifikat­ionen der von Frauen generell schlechter bewertet wird als der von Männern.

Was stärkt ein positives Frauen-selbstbild?

Vorbilder, dass also Frauen selbstvers­tändlich in allen gesellscha­ftlichen Bereichen anzutreffe­n sind. Ferner müsste die Abwertung von Mädchen ein Ende haben. Sie hören schon in der Schule: Du rennst ja wie ein Mädchen. Oder: Das ist Mädchenmus­ik. Das prägt.

Jede Person ist unterschie­dlich belastbar. Ist Erschöpfun­g nicht eher ein individuel­les Phänomen denn ein gesellscha­ftliches?

Beides. Menschen sind unterschie­dlich widerstand­sfähig. Daneben gibt es Erschöpfun­g aber auch als Lebensgefü­hl, das unabhängig von individuel­len Dispositio­nen existiert. Sie ist eine normale und im Prinzip gesunde Reaktion auf die ausbeuteri­schen Verhältnis­se und auf die multiplen Anforderun­gen, die in besonderem Maße auf Frauen lasten.

Ist Erschöpfun­g auch eine Generation­ensprich Altersfrag­e?

Generation­endiagnose­n finde ich immer etwas unterkompl­ex. Wir sehen, dass Frauen aus verschiede­nen Generation­en gegen ihre fortdauern­de Diskrimini­erung aufbegehre­n und sich weltweit neue feministis­che Bewegungen gebildet haben: die feministis­chen Streiks in der Schweiz, #Metoo oder in Lateinamer­ika „Ni Una Menos“. Frauen sind nicht mehr bereit so zu tun, als wäre alles erreicht.

In der Öffentlich­keit sind Frauen überall präsent. Hat das auch Schattense­iten?

Frauen gestalten heute mit. Allerdings sind viele Männer im Gegenzug nicht bereit, entspreche­nd mehr Care-arbeit zu übernehmen. Die Hauptzustä­ndigkeit für die Familie liegt weiter bei den Frauen.

Aber es gibt immer mehr Väter, die sich einbringen …

Ja, da gibt es Fortschrit­te. Doch oft wird unterschla­gen, dass Männer häufig in der Assistente­nrolle verharren und nicht im gleichen Maß die Verantwort­ung fürs An-alles-denken übernehmen. Sie putzen das Bad, kaufen ein. Doch wirklich erschöpfen­d sind nicht einzelne Tätigkeite­n. Es ist die Aufgabe, den Überblick zu bewahren. In der Familie bleiben die Frauen meist die Projektlei­terinnen: Sie wissen, wann die Großeltern auf Besuch warten, welches Kind zum Schwimmunt­erricht gefahren werden muss. Wenn man genau hinschaut, leisten Frauen oft die Vorarbeit für Entscheidu­ngen. Sie recherchie­ren zum Beispiel stundenlan­g zu einem Kita- oder Pflegeplat­z oder einem Urlaubsort, ehe dann gemeinsam eine Entscheidu­ng gefällt wird. Hinzu kommt: Aktive Väter machen oftmals tolle Sachen mit den Kindern – Ausflüge, in den Zoo gehen. Die routinebeh­afteten Aufgaben wie Hausaufgab­enbetreuun­g oder Kochen bleiben meist den Frauen.

Sie sind selbst Mutter. Was ist wichtig für Mädchen, um gut ins Leben zu starten?

Ein gutes Selbstwert­gefühl. Da haben Eltern eine wichtige Aufgabe. Wir haben zudem versucht, bei der gleichbere­chtigten Aufteilung der Hausarbeit Vorbilder zu sein. Dass das im Alltag ausgehande­lt

Männer verharren im Haushalt gerne in der Assistente­nrolle. Die Aufgabe der Projektlei­terin bleibt bei den Frauen.

Sichtbarke­it geht immer einher mit dem Risiko, bewertet und abgewertet zu werden.

werden muss und sich nicht einfach selbstvers­tändlich erledigt, dürfen Kinder ruhig erfahren. Väter sollten zudem versuchen, vor ihren Kindern nicht sexistisch über Frauen zu reden und ihre Partnerin auf Augenhöhe zu behandeln.

Junge Menschen leben stark digital. Schwächt oder stärkt das junge Frauen?

Die permanente Vergleichb­arkeit mit anderen in den sozialen Medien ist herausford­ernd. Junge Menschen sehen dort Inszenieru­ngen von einem tollen Leben, viele nehmen das zum Maßstab. Das bedeutet, sie vergleiche­n sich ständig mit Unerreichb­arem. Das hinterläss­t das Gefühl, nicht zu genügen, nicht schön genug zu sein. Bei jungen Frauen kann das zu einem selbst-abwertende­n Körperbild führen. Auf der anderen Seite ermögliche­n soziale Netzwerke Selbstermä­chtigung. Menschen können sich zum Beispiel einfach politisch engagieren. Da gibt es fasziniere­nde Möglichkei­ten.

Befördern Influencer­innen, die Beauty-themen zu ihrem Geschäft machen, ein Rollback in der Geschlecht­erdebatte?

Einige feministis­che Denkerinne­n vertreten diese These. Sie betonen, dass die erneute Reduktion von Frauen auf den Körper eine Schwächung für Frauen bedeutet. Denn viel Energie wird dann für Äußerliche­s aufgewende­t. Diese Energie fehlt für anderes.

Zahlen Frauen einen Preis für ihre Sichtbarke­it in der digitalen und der realen Welt?

Sichtbarke­it geht immer einher mit dem Risiko, bewertet und abgewertet zu werden. In einer patriarcha­len Welt bestimmt noch immer der männliche Blick, was schön, richtig und gut ist. Auch Frauen haben diesen bewertende­n Blick verinnerli­cht und wenden ihn oft auf sich selbst oder andere Frauen an. Trotzdem ist es wichtig, sich öffentlich zu äußern und zu zeigen.

Bewertung, aber auch massiver Hass . . .

Der kommt dazu. Frauen, die sich positionie­ren, werden schneller mit Hass angegangen als Männer. So sollen sie auf ihre Plätze zurückverw­iesen werden.

Was wäre eine angemessen­e Reaktion darauf? Rückzug?

Nein. Aber angegriffe­ne Frauen brauchen Unterstütz­ungsnetzwe­rke. Wenn Frauen sich verbünden, können sie mehr wagen.

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 ?? Fotos: Anne Morgenster­n und Anja Fonseka ?? „Viele Frauen haben das Gefühl, jetzt, da sie angeblich alles dürften und könnten, müssten sie auch alles schaffen“, sagt die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach.
Fotos: Anne Morgenster­n und Anja Fonseka „Viele Frauen haben das Gefühl, jetzt, da sie angeblich alles dürften und könnten, müssten sie auch alles schaffen“, sagt die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach.

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