„Landwirt, das sind 20 Berufe in einem“
Während immer mehr landwirtschaftliche Betriebe mangels Nachwuchs aufgeben müssen, haben Janis Böll und Regine Schurig einen Hof übernommen. Ein Besuch bei zweien, die vieles anders machen wollen – und doch nicht wissen, ob es am Ende klappen wird.
Im Gehen tritt Janis Böll immer wieder gegen einen Haufen Erde, rupft an manchen Stellen Wurzeln heraus und durchwühlt mit den Händen den Boden des neuen Gemüsebeets. Einige Schritte weiter bleibt er erneut stehen, bückt sich und hebt einzelne Karotten- und Grünkohlstücke auf, die Überreste der vergangenen Ernte. Nebenbei erklärt er, was er alles im Frühling anpflanzen möchte und welche Lehren er aus der Trockenheit im letzten Jahr gezogen hat. Schnell wird klar, dass die Arbeit nicht ausgehen wird – besonders nicht auf einem Bauernhof wie diesem.
Janis ist 32 Jahre alt, auffallend groß, mit braunen, zerzausten Haaren und einem Zehn-tage-bart. Statt mit Arbeitshose, Stiefeln und Winterjacke könnte man ihn sich dank seiner drahtigen Figur auch als Bergspezialisten bei der Tour de France vorstellen. Seit 2020 bewohnt und bewirtschaftet er einen kleinen Bauernhof am Rande der schwäbischen Alb. Das nächste Dorf heißt Rißtissen und ist einen Kilometer entfernt, nach Ulm sind es knapp 30 Kilometer. Wohnhaus, Ställe, Felder und Beete liegen auf einer sanften Anhöhe, bei Föhn zeichnen sich die Gipfel der Alpen scharf gegen den südlichen Himmel ab.
Wenn Janis von seinem Hof spricht, nennt er ihn gerne „die Insel“. Wobei: So ganz stimmt das nicht, denn genau genommen ist es gar nicht „seine“Insel. Zusammen mit Regine Schurig, seiner 28-jährigen Freundin, hat er ihn lediglich gepachtet. Bauernhöfe werden in Deutschland traditionell eigentlich von Generation zu Generation weitervererbt. Viele Jüngere wählen mittlerweile jedoch einen anderen Berufsweg, weshalb immer mehr Höfe aufgegeben oder von größeren aufgekauft werden.
Viele Landwirte geben auf
Zwischen 2010 und 2020 ging die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland nach Angaben des Bauernverbandes um 12 Prozent zurück. In Umfragen geben viele ältere Landwirte an, dass sie keinen Nachfolger finden. Regine und Janis stammen nicht aus einer landwirtschaftlichen Familie, hätten nicht die finanziellen Mittel einen Hof zu kaufen, und hatten im Grunde auch nie die Absicht, Landwirte zu werden.
„Wir kamen zum Hof wie die Jungfrau zum Kind“, sagt Janis rückblickend. Der Anruf eines Kumpels, eine Besichtigung und viele Gespräche mit den Besitzern später, war der „Biohof im Moschlet“geboren. Die Entscheidung trafen sie ohne Not, aus purer Lust auf Landwirtschaft. „So überraschend war es vielleicht doch nicht, dass du Bauer wirst“, sagt Regine zu Janis, „schließlich hast du schon mit 16 etwas gebraucht, das dich körperlich fordert.“Das zeigt auch sein Lebenslauf: Janis hat einen Masterabschluss in Agrarwissenschaften, jobbte nebenbei auf einem Bauernhof und arbeitete mehrere Jahre im Projekt- und Forschungsmanagement für verschiedene Firmen. Er wusste, auf was er sich einlässt. Regine, ein Energiebündel mit offenem Lachen, ist eigentlich Erzieherin und Kunstpädagogik-studentin. Sie hatte bis dahin noch nicht einmal eine Mistgabel in der Hand. Seit der Übernahme des Hofes hat sie sich aber vieles mithilfe von Ratgeberartikeln und Youtube-videos innerhalb kürzester Zeit selbst beigebracht. Auf dem hölzernen Esstisch im Wohnzimmer liegt noch heute ein Stapel Bücher mit handschriftlichen Notizen. Das oberste heißt „Gemüse erfolgreich vermarkten“.
Der Start war schwierig. Der Bauernhof ähnelte einem Ungeheuer mit vielen gefräßigen Mäulern: Kaum war das erste gestopft, hatte schon das nächste Hunger. Um die dringendsten Arbeiten finanzieren zu können, gehen die beiden ins
Risiko: Sämtliche Ersparnisse fließen in den Erhalt und den Aufbau des Hofes, zusätzlich müssen sie einen Kredit aufnehmen. Und dann rauschte, mitten in ihrer ersten Saison, auch noch die Pandemie heran. „Corona war für uns im Grunde ein Glücksfall“, sagt Regine überraschend. Viele Freunde waren in Kurzarbeit, konnten also beim Ackern und Pflanzen mitanpacken. Zudem nahm die Wertschätzung für regionales und biologisches Obst während des ersten Lockdowns stark zu.
Mit der Zeit entwickelte sich das Geschäft. Den Stall haben sie an einen Kooperationsbetrieb für die Aufzucht einer Gruppe von 20 bis 30 Rindern vermietet – die regelmäßigen Einnahmen stopfen die größten finanziellen Löcher. Jetzt werden sie nach und nach mutiger: Sie pflanzen mehr Sorten, erweitern das Angebot und verkaufen einen Teil der Gemüseernte in einem Supermarkt in Laupheim, der nächstgrößeren Stadt. Ohne Rückschläge geht das alles jedoch nicht: Wegen eines plötzlichen Kälteeinbruchs platzt ihnen 2022 buchstäblich fast die komplette Weiß- und Rotkohlernte. Und auch die Rinder gingen schon mehrfach auf der Weide durch. Wenn die beiden darüber sprechen, ist erkennbar, dass sie auch an diesen Rückschlägen Gefallen finden. Besonders schätzen die beiden die Freiheit und Spontaneität, tun zu können, was sie wollen. Und vor allem, wie sie es wollen. „Wir müssen niemandem Rechenschaft ablegen, außer uns selbst“, sagt Regine.
Inzwischen gehen Regine und Janis bereits in ihre vierte Saison. Auf den Feldern bauen sie hauptsächlich Demeterzertifizierten Weizen an, dazu kommen Dinkel, Hafer, Körnermais und Kartoffeln. In einem rund 1000 Quadratmeter großen Beet und zwei neu errichteten Treibhäusern pflanzen sie Salate, Kohl, Tomaten, Erdbeeren und mehr – das AboAngebot für eine Gemüsekiste lief im vergangenen Jahr vielversprechend an. Die Kunden schätzen besonders die natürliche Qualität: „Wir säen von Hand, pflegen das Beet von Hand und ernten von Hand“, sagt Janis. Warum sie ausschließlich auf Bio-angebote setzen? „Weil wir zeigen wollen, dass Landwirtschaft nachhaltiger geht als sie bisher betrieben wird“, sagt Janis.
Landwirt ist auch heute noch ein Vollzeitjob. Zu zweit bewirtschaften Regine und Janis eine Fläche von 26 Hektar, das entspricht etwa der Größe von 36 Fußballfeldern. Körperlich ist das auch für junge Leute anstrengend, abends ächzt hin und wieder der Rücken oder knacken die Gelenke. Warum tun sie sich diese
Plackerei an? „Weil‘s Spaß macht“, antwortet Janis ohne Zögern. „Der Beruf umfasst alles, was ich gerne mache: Er ist geistig und körperlich anspruchsvoll, bringt ständig neue Aufgaben und die Tiere geben einem sehr viel zurück. Landwirt, das sind für mich 20 Berufe in einem.“Ob er weiß, dass er damit in fünf Sekunden mehr Gründe aufgezählt hat, als viele Angestellte nach Jahren eintöniger Schreibtischarbeit zusammenkratzen könnten?
Unsicherheit gilt es auszuhalten
Trotz aller bisherigen Fortschritte steht der Erfolg des kleinen Bauernhofs noch immer auf der Kippe. „Ob sich der Hof finanziell trägt, ist bislang nicht klar“, sagt Regine. Vor allem die stark gestiegenen Energiepreise machen den Landwirten in Deutschland laut Bauernverband zu schaffen. Janis ergänzt trocken: „Wenn der Traktor morgen verreckt, sind wir am Arsch.“Diese Unsicherheit gilt es auszuhalten. Tag für Tag. Trotzdem kommt ihnen im Laufe des dreistündigen Treffens ein Wort nicht einmal über die Lippen: Aufgeben.
In den kommenden Wochen beginnt die Aussaat für die Beete und die Treibhäuser. Vieles hängt vom weiteren Erfolg der Gemüsekiste ab – der Abo-verkauf hat gerade begonnen. Sie verfolgen hierbei ein solidarisches Konzept: Durch den Abo-verkauf finanzieren sie den Anbau für die gesamte Saison. Abonnenten erhalten dafür wöchentlich eine Kiste mit frischem, regionalem Gemüse und einen unmittelbaren Einblick in den Anbau. Durch das Abo können Regine und Janis die angebauten Mengen besser planen und sind auch finanziell abgesichert.
Wer in der Landwirtschaft etwas Neues aufbauen will, experimentieren oder alternative Anbauweisen verfolgen möchte, darf eigentlich nicht in Jahren, sondern muss in Jahrzehnten denken. Regine und Janis haben den Hof für 15 Jahre gepachtet, es gibt aber einige Absicherungsklauseln. Im Herbst 2024 wollen sie eine erste Bilanz ziehen: Wenn der Hof bis dahin keine schwarzen Zahlen schreibt und ihnen kein vernünftiges Einkommen ermöglicht, werden sie ihr Herzensprojekt wohl oder übel einstellen müssen.
Janis und Regine, das darf man ohne jeden Kitsch sagen, leben ihren Traum. Aber verträumt sind sie nicht. Die neue Saison wird zeigen, wie sich das Geschäft entwickelt – und ob die Nachfrage aus der Bevölkerung und das Interesse an ihren Produkten weiterhin hoch bleibt. Auch Landwirte haben nun mal nicht alles in der eigenen Hand.
Wir wollen zeigen, dass Landwirtschaft auch nachhaltiger geht, als sie bisher betrieben wird. Janis Böll übernahm kurz vor Corona einen Bauernhof