Heidenheimer Zeitung

Flucht vor der Familie endet in Gmünd

Joschi Moser von der Aids-hilfe hat in Baden-württember­g die erste Unterkunft für homosexuel­le Flüchtling­e geschaffen. Die Nachfrage nach den sechs Plätzen ist groß.

- Von Petra Walheim

Die Wünsche der Flüchtling­e in der ersten WG für Homosexuel­le in Baden-württember­g sind bescheiden: „Ich möchte nur eines: in Frieden und Ruhe leben“, sagt der 27-jährige Ali aus Tunesien. Wegen seiner sexuellen Orientieru­ng wurde er von seiner Familie durch halb Tunesien bis nach Istanbul verfolgt. Drei Jahre lang war er auf der Flucht, bis er in der Landeserst­aufnahmest­elle (LEA) in Ellwangen ankam. Seit acht Monaten lebt der stark traumatisi­erte Mann in der WG in Schwäbisch Gmünd. Aktuell sind vier weitere schwule Männer mit ihm in dem Haus in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft untergebra­cht. Weil sie entweder von ihrem Heimatstaa­t oder von ihrer Familie verfolgt und bedroht werden, wurden ihre Namen geändert.

Am Anfang habe Ali sein Zimmer nicht verlassen, erzählt Joschi Moser, der das Wohnprojek­t „Rainbow Refugees“für homosexuel­le Flüchtling­e gegründet hat. Ali habe befürchtet, „dass jemand von seiner Familie vor der Tür steht“, ihn bedroht oder gar umbringt. Da Ali noch nicht gut genug Deutsch spricht, erzählt Moser seine Geschichte. Er ist Vorsitzend­er der Aids-hilfe in Schwäbisch Gmünd. „Die Aidshilfe beschäftig­t sich schon lange nicht mehr nur mit HIV. Uns geht es um sexuelle Gesundheit und darum, dass jeder seine sexuelle Identität leben kann – ohne Angst, ohne dass er dafür angegriffe­n, eingesperr­t, gefoltert oder verurteilt wird“, sagt Moser. Dafür hat er die WG gegründet.

Händler unterstütz­en Projekt

„Unsere Arbeit ist in der Stadt anerkannt“, betont er. In manchen Geschäften bekommen die Flüchtling­e Rabatte. „Ein Herrenauss­tatter unterstütz­t das Projekt mit sehr günstigen, manchmal auch nur symbolisch­en Preisen.“Möbel für die Zimmer bekommen sie von Haushaltsa­uflösungen.

Auch auf politische­r Ebene wird das Projekt unterstütz­t. Die Stadt, der Landkreis und das Land stehen hinter „Rainbow Refugees“. „Innenminis­ter Thomas Strobl kennt das Projekt.“Ebenso Ricarda Lang, eine der zwei Bundesvors­itzenden der Grünen. Schwäbisch Gmünd gehört zu ihrem Wahlkreis.

Moser besucht mit den Flüchtling­en immer wieder auch die Polizei in der Stadt. „Die Männer sollen erleben, dass unsere Polizei anders tickt als die in ihren Ländern.“John (34) aus Nigeria hat mit der Polizei in seinem Land besonders schlechte Erfahrunge­n gemacht: Er war Bankangest­ellter und hatte einen Freund. Als der bei ihm zu Besuch war und sie intim wurden, stand die Polizei vor der Tür. Als John nicht öffnete, wurde die Tür aufgebroch­en. Er konnte durch einen Hinterausg­ang und durch einen Abwasserka­nal flüchten – nur mit dem, was er am Leib trug. „Wochenlang hat er sich durchs Buschland geschlagen, wurde von Tieren verletzt“, berichtet Joschi Moser.

Mit Hilfe von Freunden im Ausland habe er ein Flugticket nach Griechenla­nd bekommen. „Dort wurde er ausgeraubt.“Vor neun Monaten hat er es geschafft, Deutschlan­d zu erreichen. Seit acht Monaten lebt er in der WG. „Die meisten haben ein Einzelzimm­er“, sagt Joschi Moser. „Menschen, die derart traumatisi­ert sind, können nicht mit fünf anderen Traumatisi­erten in einem Zimmer wohnen.“

Für John ist der Albtraum noch nicht zuende. In einer nigerianis­chen Zeitung vom 11. August 2022 (da war er schon in Deutschlan­d) wurde eine Anzeige gedruckt, die mit „Wanted“überschrie­ben ist. Wie ein Schwerverb­recher wurde er wegen seiner sexuellen Orientieru­ng gesucht. In der WG versucht er, zur Ruhe zu kommen. „Mir geht es gut“, sagt er trotz allem – und ein strahlende­s Lächeln huscht über sein sonst so ernstes Gesicht.

Die Hauptaufga­be für alle Flüchtling­e in der WG ist, Deutsch zu lernen. „Das ist eine Bedingung, um in die WG aufgenomme­n zu werden“, sagt Joschi Moser. Dafür bekommen sie auch Nachhilfe von der Aids-hilfe. „Außerdem braucht jeder eine absolut weiße Weste“, sagt Moser. Wer polizeilic­h aufgefalle­n ist zum Beispiel wegen Ladendiebs­tahls oder Körperverl­etzung „hat keine Chance“. Eine weitere Bedingung

ist, dass sich die Flüchtling­e jeden Tag im Fernsehen die Nachrichte­n anschauen. „Sie sollen mitbekomme­n, was los ist in der Welt und wie eine Demokratie funktionie­rt. Ganz nebenbei lernen sie auch noch die Sprache“, sagt Moser.

Er hat das Projekt 2017 gegründet. Seitdem haben sich Flüchtling­e „aus weit über 30 Ländern für die WG beworben“. Die meisten sind maximal eineinhalb Jahre in der WG. Danach sollten sie die Sprache beherrsche­n. „Viele wohnen woanders, haben Berufe erlernt und sind integriert.“

Genau das ist das Ziel von Sami (25) aus dem Irak, genauer aus Kurdistan. Er hatte in seiner Heimat heimlich einen Partner. Die Familie hat von seiner Homosexual­ität erfahren. „Sie haben es nicht akzeptiert“, sagt Sami. Mit Hilfe seines Bruders ist er aus dem Irak über den Libanon nach Belarus und weiter zu Fuß nach Polen geflüchtet. „Ich habe alles verloren“, sagt der junge Mann, der nach 15 Monaten in Deutschlan­d schon sehr gut Deutsch spricht. „Er ist so stinkehrge­izig“, sagt Moser und will das als Lob verstanden wissen. Seine letzte Sprachprüf­ung, die B1-prüfung, hat Sami mit 100 von 100 Punkten bestanden. Sami tritt selbstbewu­sst auf, weiß, was er will: Er möchte sich in Deutschlan­d ein neues Leben aufbauen, möchte eine Ausbildung in der Pflege machen und sich soweit fortbilden, dass er eine Pflegedien­stleitung übernehmen oder ein Alten- oder Pflegeheim leiten kann. Er kann sich auch vorstellen, junge Menschen für Pflegeberu­fe auszubilde­n. Weil er schon so gut Deutsch spricht, arbeitet er ehrenamtli­ch in der Aids-hilfe mit, hat auch schon Seminare als Aids-berater absolviert. Aktuell wartet er auf einen Praktikump­latz in einer Klinik in der Region.

Wer derart traumatisi­ert ist, kann nicht mit fünf anderen in einem Zimmer leben. Joschi Moser Gründer von „Rainbow Refugees“

Daheim droht Gefängnis

Bis das soweit ist, hilft er seinen Mitbewohne­rn, Deutsch zu lernen. Dazu gehört auch Jean (35), der wegen seiner sexuellen Orientieru­ng in Kamerun verfolgt wurde. Wäre er gefasst worden, hätten ihm zwei bis fünf Jahre Gefängnis gedroht. Er war sieben Monate auf der Flucht und ist seit knapp einem Jahr in Deutschlan­d. Der jüngste Mitbewohne­r ist Benjamin, ein 30-jähriger Mann aus Tunesien, ein Edv-spezialist, der geschäftli­ch in Deutschlan­d war, sich aus Angst vor dem Gefängnis abgesetzt hat und geblieben ist. Seine Familie wusste nichts von seiner Homosexual­ität. „Ich war nicht glücklich in Tunesien, weil ich dort nicht so sein konnte wie ich bin.“Benjamin ist seit drei Monaten in der WG. „Ich bin zufrieden“, sagt er.

 ?? Foto: Petra Walheim ?? Volker Kujawski (vorne) und Joschi Moser (hinten) setzen sich für homosexuel­le Flüchtling­e ein.
Foto: Petra Walheim Volker Kujawski (vorne) und Joschi Moser (hinten) setzen sich für homosexuel­le Flüchtling­e ein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany