Lieber Eduard,
an einem frühlingsmilden Märztag des Jahres 1829 hat Dich die Muse geküsst, und aus deiner Feder floss die Zeile „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte“. Dass Dein reizendes kleines Gedicht zur Interpretation auf ganze Heerscharen von gelangweilten Schülerinnen und Schülern losgelassen wurde, dafür kannst Du ja nichts. Aber auch im alles andere als lauen, vielmehr von Kälte, Schnee und Regen geprägten März 2023 lohnt ein Blick auf Deine Verse.
„Veilchen träumen schon, wollen balde kommen“, so geht es bei Dir weiter, lieber Eduard. Mit Blick auf Nattheim oder Giengen und den dort unlängst entstandenen Industrie- und Gewerbeparks ist allerdings eines festzustellen: Veilchen wären dort in den Wäldern und auf den Fluren vielleicht auch ganz gerne gekommen, woran sie jetzt aber durch die auf ihnen stehenden großformatigen Hallenbauten wichtiger Logistiker rigoros gehindert werden.
Auch dafür, lieber Eduard, kannst Du nichts. Und es wäre Dir auf den Fildern, wo du damals lebtest, auch nicht in den Sinn gekommen. Aber schauen wir weiter auf Dein zartes lyrisches Gebilde. Ein Vers kurz vor dem Ende geht so: „Horch, von fern ein leiser Harfenton!“Wer davon nicht sofort an die Teilnehmer der langsam näher rückenden Montagsdemonstration in der Stadt Heidenheim erinnert wird, dem ist nicht zu helfen. Auch wenn der Harfenton in modernen Zeiten natürlich durch lautes Gepfeife und Getrommel ersetzt wurde, und die von Dir besungenen Veilchen nicht die geringste Chance hätten, nicht von der sich nahenden bürgerschaftlichen Unzufriedenheit zertreten zu werden.
Lieber Eduard Mörike, humorlose Gesellschaftskritik hattest Du mit Deinem romantisch angehauchten Gedicht „Er ist’s“ganz bestimmt nicht im Sinn. Eher die Hoffnung weckende Märzenbecherblüte im Eselsburger Tal. Die gibt’s ja zum Glück auch heute noch. Wie sicherlich schon 1829. Aber Du liest das ja nicht.