Ein Papst der Armen
Ein Kirchenführer, der in den Slums eine Lebenswende erfährt. Wer Franziskus verstehen will, reist am besten zu den Rändern der Welt. Seit zehn Jahren führt der Argentinier die katholische Weltkirche.
Es war ein Augenblick voller Hoffnung: Am 13. März 2013 betritt Jorge Mario Bergoglio die Loggia des Petersdoms und berührt Hunderttausende mit einem einfachen Gruß: „Buonasera“, guten Abend. Der Argentinier war Stunden zuvor zum 266. Papst der römisch-katholischen Weltkirche gewählt worden. Schon das Äußere des damals 76-Jährigen signalisierte eine neue Zeit: kein Purpurrot, kein Umhang aus Hermelin, kein funkelndes Brustkreuz. Und dann der Name: Franziskus, nach dem Heiligen der Armen. Schon der erste Auftritt war Programm.
Papst Franziskus hat der katholischen Kirche in den zurückliegenden zehn Jahren eine neue Richtung gegeben: weg von der Selbstbezogenheit hin zu einer Kirche, die Menschen an den gesellschaftlichen Rändern in den Blick nimmt. Nicht mit gelehrigen theologischen Büchern weist Franziskus den Weg, sondern mit zeichenhaften Handlungen, die mehr sind als reine Symbole. „Betet für mich“, sagte Franziskus bei seiner ersten kurzen Ansprache, und wiederholte die Bitte noch tausendfach. Ein Papst als Unterstützungsbedürftiger; Gläubige, die Gebende und Empfangende sind. Schon in dem einfachen Satz lag eine Neujustierung der Gewichte.
Doch wer ist der Mann, der die Weltkirche nun seit zehn Jahren prägt? Ist er ein Revolutionär, wie sein Namensgeber Franz von Assisi? Oder doch ein Reaktionär, der, mit patriarchalem Stil, zwar Zeichen setzen, aber Grundsätzliches nicht ändern will? Franziskus sei „kein liberaler, sondern ein radikaler Reformer, der die Kirche von den Wurzeln her, vom Evangelium her reformieren will“, sagte Kardinal Walter Kaspar vor einiger Zeit. Der frühere Bischof aus Rottenburgstuttgart war viele Jahre lang Chef des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Kirche Rom. Wer sein Urteil verstehen will, muss zu den Wurzeln des heutigen Papstes reisen.
Vom anderen Ende der Welt
Hinter Betonwänden beginnt die Welt von Jorge Mario Bergoglio. Häuser ohne Verputz, unbefestigte Straßen, Gassen, in denen Abwasser stinkt und Hunde im Müll nach Essbarem suchen. Aber auch das: zehn Madonnenfiguren und -Abbildungen auf einen ersten flüchtigen Blick. Das ist Villa Madre de Flores, einer der Slums in Argentiniens Hauptstadt, der einen wunderbaren Namen trägt – Villa der Mutter der Blumen – und doch so schäbig ist. Bergoglio war in dieser Welt zu Hause, mit knapp zehn gleichgesinnten Priestern. „Hier Priester zu sein, bedeutet in allen Dimensionen zu leben, die wichtig sind“, sagt Gustavo, einer seiner Nachfolger, in einer schlichten, kalten Kirche. „Hier geht es nicht darum, von anderen Priestern zu lernen, sondern von den Menschen“, pflichtet ihm Sebastian, ein anderer Priester, bei.
Jorge Mario Bergoglio hat die Orte der Armen gesucht. Zuerst in der Provinz, in Córdoba, später in Buenos Aires. In die Provinz war der Jesuit nach einer krisenhaften Zeit als Ordensoberer während der Militärdiktatur geschickt worden. Durch sein herrisches Gehabe hatte er als Provinzial Gräben unter den Ordensbrüdern aufgerissen. Papst Franziskus spricht selbst von Fehlern und Überforderung, wenn er diese Zeit erinnert.
In den Slums erfährt er seine Lebenswende. Hier lernt er das Leben und die Sprache der Armen. Alleinerziehende und Geschiedene, Kranke und Drogenabhängige, Kleinkriminelle und Ausgestoßene werden zu seinen Lehrmeistern. Die Begegnungen verändern und prägen ihn. Er hört zu, statt auf Gehorsamkeit und die Einhaltung starrer Regeln zu pochen. Und er wird tief ergriffen von der Frömmigkeit der einfachen Menschen. An Stätten wie San Cajétano, einem Wallfahrtsort im Herzen von Buenos Aires, kann man sie erfahren. Vor allem an jedem 7. des Monats stehen hier viele hundert Menschen Schlange, um dem Heiligen Cajétano, dem Namensgeber der Kirche, Sorgen und Nöte vorzutragen. Statt Blumen und Kerzen haben die Menschen gebrauchte Kleidung und Spielzeug in der Hand. Die Sachen bringen sie in die Kirche. Denn irgendwo ist immer noch einer, der bedürftiger ist als man selbst. Vor der Statue des Heiligen herrscht gesammeltes Schweigen, während sich in einem Innenhof Gläubige zu einer spontanen, von Laien initiierten Feier versammeln. Streichhölzer werden kurz entzündet als Zeichen des alle verbindenden Geistes. Priester schauen vorbei. Das Heft des Handelns haben nicht sie in der Hand. Weder sie noch Professoren oder Gelehrte haben in diesem Teil der Erde die Deutungshoheit. Es sind die Menschen, die den Glauben in ihren eigenen Ausdrucksformen leben. Die Wertschätzung der Volksfrömmigkeit ist ein Frontalangriff gegen die europäisch geprägte Theologie.
In den Slums von Argentinien erfährt der Jesuit Jorge Bergoglio eine Lebenswende.
„Dieser Papst redet nicht von Armut. Er lebt sie“, sagt Carlos Maria Galli, Theologieprofessor und enger Weggefährte des Papstes bei dem Besuch in Buenos Aires. Das fordere Klerus und Kirchenvolk heraus. Von Hirten, die den Geruch der Herde annehmen müssten, spricht Franziskus – und nährt auch damit den Widerstand der Kurie, mancher Oberhirten und Prälaten. Tatsächlich legt Papst Franziskus wenig Wert auf den Kirchenprunk der alten Welt. „Der Karneval ist vorbei“, hat er als Frischgewählter gesagt. Seither sind im Vatikan viele Insignien päpstlicher Traditionen wie die roten Schuhe oder spitzenbesetzte Gewänder in Schränke verbannt. Statt in den Prunkräumen des Apostolischen Palasts zu residieren, bezieht Franziskus eine kleine Wohnung im Gästehaus des Vatikans. Er bleibt nahe bei den Menschen und Herr über seinen Terminkalender.
Sehnsuchtsort: Peripherie
Auch als Papst zieht es Bergoglio an die gesellschaftlichen Ränder. Seine erste Reise führt ihn auf die Mittelmeerinsel Lampedusa, wo er auf das Schicksal von Flüchtlingen verweist. Dass Europa sich hinter Stacheldraht und Gesetzen verbarrikadiert, nennt er einen Skandal, den er nicht müde wird anzuprangern. Viele Regierungschefs müssen harsche Worte hören. Nicht die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel, zu der Franziskus wegen deren humanitärer Flüchtlingspolitik ein besonders wertschätzendes Verhältnis pflegt. Auf viele humanitäre Brennpunkte lenkt Franziskus mit seinen Reisen die Aufmerksamkeit der Welt – und auf viele Konflikte. Nicht immer gelingt ihm ein Brückenschlag. Im Ukraine-krieg bietet er sich als Vermittler an. Trotz diplomatischer Zurückhaltung gegenüber dem Aggressor Russland bleiben die Türen in Moskau verschlossen.
Ein Revolutionär, der die Kirchenlehre ändert, ist Papst Franziskus nicht. „Er ist nicht theologisch progressiv, aber er ist barmherzig. Das ist der Schlüssel zum Begreifen seiner Persönlichkeit und seiner Reform“, schreibt der tschechische Theologe Tomas Halik über Franziskus. „Dieser Papst ändert nicht geschriebene Normen, er zerstört nicht äußere Strukturen, er ändert jedoch die Praxis, das Leben.“Damit will Franziskus Prozesse in Gang setzen, die seinen Tod überdauern, wie er in seiner 2013 verfassten Schrift „Evangelii Gaudium“(Freude am Evangelium) betont. Darin formuliert er seine Grundprinzipien: Die Zeit sei wichtiger als der Raum, die Einheit entscheidender als der Konflikt, die Wirklichkeit
ausschlaggebender als die Idee und das Ganze bedeutender als ein Teil.
Mit Strukturreformen tut sich Papst Franziskus tatsächlich schwer. Mit Schwung angekündigte Projekte wie die Reform der Kurie, die Ordnung päpstlicher Finanzen, bleiben hinter den Erwartungen zurück. Auch in Moralfragen bleibt er schwer zu fassen: Wertschätzung Homosexueller ja, aber keine formale Aufwertung, gar eine Anerkennung ihrer Partnerschaften als Ehe. Rigorose Verurteilung sexualisierter Gewalttaten von Klerikern, aber auch falsche Loyalität mit Weggefährten aus Chile, die sich schuldig gemacht haben. Ein Schlingerkurs zeigt sich auch gegenüber den Men
schen aus Amazonien. Mutige Beträge forderte das Kirchenoberhaupt vor der Amazonassynode von den dortigen Bischöfen ein – und ignorierte diese dann in dem von ihm freigegebenen Schlussdokument. Dass sich seine Mitbrüder mit Zweidrittel-mehrheit für die Öffnung des Priesteramtes für verheiratete Männer und die Einbeziehung von Frauen in Leitungsämter ausgesprochen hatten, bleibt ohne Relevanz. Das löste Enttäuschung aus – auch bei Reformkräften in Europa.
Das Verhältnis der Deutschen zu Papst Franziskus ist in den vergangenen zehn Jahren merklich abgekühlt. Franziskus scheut Entscheidungen. Besonders augenfällig ist das in der Causa Woelki.
Auch Hoffnungen auf Weichenstellungen beim Pflichtzölibat, bei der Einbeziehung von Frauen in kirchliche Ämter, Nachbesserungen bei der katholischen Sexuallehre bleiben unerfüllt. Dem deutschen Reformprozess Synodaler Weg steht das Kirchenoberhaupt unverkennbar kritisch gegenüber. Ausgefeilte theologische Papiere, wie sie in Deutschland erarbeitet werden, sind für ihn von begrenzter Bedeutung. Mehr vertraut der Papst vom anderen Ende der Welt der Schule des Lebens. Damit bleibt der inzwischen 86-jährige Argentinier auch im bald elften Jahr seines Pontifikates schwer zu fassen. Er ist damit aber auch für Überraschungen gut.