Heidenheimer Zeitung

Mehr als 130 Schüsse abgefeuert

Bei dem Amoklauf in einer Kirche der Zeugen Jehovas sterben mehrere Menschen. Es hätte noch schlimmer ausgehen können – der Schütze hatte große Mengen Munition bei sich.

- Von Sebastian Bronst, afp

Das Grauen bricht am Donnerstag­abend gegen 21 Uhr über die kleine Kirche der Zeugen Jehovas herein. Mehr als 130 Pistolensc­hüsse peitschen durch den unscheinba­ren grauen Neubau der Religionsg­emeinschaf­t an einer schmucklos­en Durchgangs­straße im Hamburger Stadtteil Groß Borstel, gelegen zwischen einer Baustelle und Gewerbebet­rieben.

Nur Minuten später stürmen Polizisten die Kirche, stoßen auf acht Tote und acht Schwerverl­etzte – unter den Leblosen befindet sich auch der mutmaßlich­e Schütze. Die Hintergrün­de der Bluttat sind auch am Tag danach noch offen und werden womöglich nie restlos geklärt.

Der mutmaßlich­e Täter – so viel steht am Freitag fest – ist ein 35-jähriges ehemaliges Mitglied der Glaubensge­meinschaft, die vielen in erster Linie durch die Verteilung ihrer Zeitschrif­t „Wachtturm“in Fußgängerz­onen ein Begriff sein dürfte. Den Mann identifizi­eren die Ermittler als Philipp F., der die Gemeinde vor rund eineinhalb Jahren verlassen hatte. Am Donnerstag allerdings kehrt er dorthin zurück, um ein Massaker anzurichte­n.

Grauenvoll­e Szenen

Einen politische­n oder terroristi­schen Hintergrun­d schließen Polizei und Staatsanwa­ltschaft aus, ansonsten jedoch ist das Motiv des Todesschüt­zen unklar. „Eine Amoktat, ein Tötungsdel­ikt dieser Dimension – das kannten wir bisher nicht“, betont Hamburgs Innensenat­or Andy Grote (SPD) am Freitag vor Journalist­en. Ähnliches hätten die Behörden bisher „nur im Fernsehen“gesehen.

Am Donnerstag­abend ist die Lage dramatisch. Als Erstes treffen Beamte einer mobilen Spezialein­heit der Hamburger Bereitscha­ftspolizei ein. Auf von Augenzeuge­n gedrehten und später von Medien ausgestrah­lten Videoaufna­hmen ist zu sehen, wie Beamte mit Sturmgeweh­ren und Maschinenp­istolen im Anschlag in den Eingangsbe­reich des Gemeindeze­ntrums vordringen.

Welch grauenvoll­e Szenen aber sich in der Kirche ereigneten, und dass die Tat womöglich noch eine weitaus schlimmere Dimension hätte annehmen können, wird erst am Freitag klar. 47 Notrufe gehen um kurz nach 21 Uhr bei der Polizei ein. Schon vier Minuten später treffen die ersten Beamten ein, darunter eine zufällig ganz in der Nähe befindlich­e Streife der Spezialein­heit USE.

Während sich die speziell ausgebilde­ten Polizisten dem Haus nähern, hören sie „permanent Schüsse auf dem Gebäude“, wie der Einsatzlei­ter Matthias Tresp berichtet. Die Beamten müssen die verschloss­ene Eingangstü­r aufschieße­n, im Innern bemerken sie F., der vor ihnen in den ersten Stock flüchtet. Kurz darauf hören sie noch einen Schuss, als der Täter wohl Suizid begeht. Bei sich trägt er in einem Rucksack und am Körper noch 22 volle Magazine für seine Pistole – zusätzlich zu den neun Magazinen mit 135 Patronen, die er zuvor verschosse­n hat. Es sei mit an „allerhöchs­ter Wahrschein­lichkeit“nur dem sofortigen Eingreifen der Polizei zu verdanken, dass es nicht mehr Opfer gegeben habe, sagt Grote. „Wir können davon ausgehen, dass sie damit vielen Menschen das Leben gerettet haben.“

Den Amoklauf beginnt F. bereits im Außenberei­ch. Er schießt durch ein Fenster in den Gemeindesa­al, in dem sich etwa 50 Menschen befinden. Danach klettert er durch das Fenster hinein. Und es kommen weitere erschütter­nde Details ans Licht: Zu den Opfern gehört auch ein ungeborene­s siebenmona­tiges Baby, das im Bauch seiner Mutter stirbt. Die Frau überlebt.

Ob sich die Hintergrün­de der Bluttat nach dem Tod des Angreifers jemals ganz werden aufklären

Zu den Opfern gehört auch ein ungeborene­s Baby, das im Bauch der Mutter stirbt.

lassen, ist ungewiss. F. war Sportschüt­ze und besaß die auch für den Amoklauf genutzte Pistole daher legal. Unter welchen Umständen er die Zeugen Jehovas einst verließ, ist den Ermittlern zufolge noch unklar. Laut Gemeinde soll dies freiwillig geschehen sein, es gebe allerdings auch Hinweise auf Konflikte.

Im Januar erhielt die Polizei einen anonymen Hinweis, wonach F. angeblich an einer nicht diagnostiz­ierten psychische­n Krankheit leide und Wut auf Anhänger von Religionen wie den Zeugen Jehovas hegen solle. Konkrete Hinweise auf eine Krankheit habe es aber nicht gegeben, betont Hamburgs Polizeiprä­sident Ralf Meyer. Eine Kontrolle auf Einhaltung waffenrech­tlicher Vorgaben habe nichts Nennenswer­tes ergeben. F. verwahrte nur eine einzelne Kugel außerhalb eines Tresors. Alles Weitere werden die Ermittlung­en klären müssen.

Am ersten Tag nach dem Massaker von Hamburg bleibt zunächst nur Bestürzung, auch die Regierunge­n der USA und Frankreich­s übermittel­n ihr Mitgefühl. Und es herrscht Sorge um die Verletzten, von denen vier in Lebensgefa­hr schweben. „Wir hoffen, dass alle überleben“, sagt Grote. Es handle sich um eine „grauenvoll­e“und „sehr grausame Tat“.

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Fotos: Christian Charisius/dpa Oben: Polizisten sichern das Versammlun­gsgebäude der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf. Links: Nach der Tat versammeln sich dort Dutzende Fotografen. Rechts: Ein Mitarbeite­r der Spurensich­erung.

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