Mehr als 130 Schüsse abgefeuert
Bei dem Amoklauf in einer Kirche der Zeugen Jehovas sterben mehrere Menschen. Es hätte noch schlimmer ausgehen können – der Schütze hatte große Mengen Munition bei sich.
Das Grauen bricht am Donnerstagabend gegen 21 Uhr über die kleine Kirche der Zeugen Jehovas herein. Mehr als 130 Pistolenschüsse peitschen durch den unscheinbaren grauen Neubau der Religionsgemeinschaft an einer schmucklosen Durchgangsstraße im Hamburger Stadtteil Groß Borstel, gelegen zwischen einer Baustelle und Gewerbebetrieben.
Nur Minuten später stürmen Polizisten die Kirche, stoßen auf acht Tote und acht Schwerverletzte – unter den Leblosen befindet sich auch der mutmaßliche Schütze. Die Hintergründe der Bluttat sind auch am Tag danach noch offen und werden womöglich nie restlos geklärt.
Der mutmaßliche Täter – so viel steht am Freitag fest – ist ein 35-jähriges ehemaliges Mitglied der Glaubensgemeinschaft, die vielen in erster Linie durch die Verteilung ihrer Zeitschrift „Wachtturm“in Fußgängerzonen ein Begriff sein dürfte. Den Mann identifizieren die Ermittler als Philipp F., der die Gemeinde vor rund eineinhalb Jahren verlassen hatte. Am Donnerstag allerdings kehrt er dorthin zurück, um ein Massaker anzurichten.
Grauenvolle Szenen
Einen politischen oder terroristischen Hintergrund schließen Polizei und Staatsanwaltschaft aus, ansonsten jedoch ist das Motiv des Todesschützen unklar. „Eine Amoktat, ein Tötungsdelikt dieser Dimension – das kannten wir bisher nicht“, betont Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) am Freitag vor Journalisten. Ähnliches hätten die Behörden bisher „nur im Fernsehen“gesehen.
Am Donnerstagabend ist die Lage dramatisch. Als Erstes treffen Beamte einer mobilen Spezialeinheit der Hamburger Bereitschaftspolizei ein. Auf von Augenzeugen gedrehten und später von Medien ausgestrahlten Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Beamte mit Sturmgewehren und Maschinenpistolen im Anschlag in den Eingangsbereich des Gemeindezentrums vordringen.
Welch grauenvolle Szenen aber sich in der Kirche ereigneten, und dass die Tat womöglich noch eine weitaus schlimmere Dimension hätte annehmen können, wird erst am Freitag klar. 47 Notrufe gehen um kurz nach 21 Uhr bei der Polizei ein. Schon vier Minuten später treffen die ersten Beamten ein, darunter eine zufällig ganz in der Nähe befindliche Streife der Spezialeinheit USE.
Während sich die speziell ausgebildeten Polizisten dem Haus nähern, hören sie „permanent Schüsse auf dem Gebäude“, wie der Einsatzleiter Matthias Tresp berichtet. Die Beamten müssen die verschlossene Eingangstür aufschießen, im Innern bemerken sie F., der vor ihnen in den ersten Stock flüchtet. Kurz darauf hören sie noch einen Schuss, als der Täter wohl Suizid begeht. Bei sich trägt er in einem Rucksack und am Körper noch 22 volle Magazine für seine Pistole – zusätzlich zu den neun Magazinen mit 135 Patronen, die er zuvor verschossen hat. Es sei mit an „allerhöchster Wahrscheinlichkeit“nur dem sofortigen Eingreifen der Polizei zu verdanken, dass es nicht mehr Opfer gegeben habe, sagt Grote. „Wir können davon ausgehen, dass sie damit vielen Menschen das Leben gerettet haben.“
Den Amoklauf beginnt F. bereits im Außenbereich. Er schießt durch ein Fenster in den Gemeindesaal, in dem sich etwa 50 Menschen befinden. Danach klettert er durch das Fenster hinein. Und es kommen weitere erschütternde Details ans Licht: Zu den Opfern gehört auch ein ungeborenes siebenmonatiges Baby, das im Bauch seiner Mutter stirbt. Die Frau überlebt.
Ob sich die Hintergründe der Bluttat nach dem Tod des Angreifers jemals ganz werden aufklären
Zu den Opfern gehört auch ein ungeborenes Baby, das im Bauch der Mutter stirbt.
lassen, ist ungewiss. F. war Sportschütze und besaß die auch für den Amoklauf genutzte Pistole daher legal. Unter welchen Umständen er die Zeugen Jehovas einst verließ, ist den Ermittlern zufolge noch unklar. Laut Gemeinde soll dies freiwillig geschehen sein, es gebe allerdings auch Hinweise auf Konflikte.
Im Januar erhielt die Polizei einen anonymen Hinweis, wonach F. angeblich an einer nicht diagnostizierten psychischen Krankheit leide und Wut auf Anhänger von Religionen wie den Zeugen Jehovas hegen solle. Konkrete Hinweise auf eine Krankheit habe es aber nicht gegeben, betont Hamburgs Polizeipräsident Ralf Meyer. Eine Kontrolle auf Einhaltung waffenrechtlicher Vorgaben habe nichts Nennenswertes ergeben. F. verwahrte nur eine einzelne Kugel außerhalb eines Tresors. Alles Weitere werden die Ermittlungen klären müssen.
Am ersten Tag nach dem Massaker von Hamburg bleibt zunächst nur Bestürzung, auch die Regierungen der USA und Frankreichs übermitteln ihr Mitgefühl. Und es herrscht Sorge um die Verletzten, von denen vier in Lebensgefahr schweben. „Wir hoffen, dass alle überleben“, sagt Grote. Es handle sich um eine „grauenvolle“und „sehr grausame Tat“.