Alarmierender Befund
Sechshundertvierundvierzig. Das ist die Zahl, um die die deutschen Streitkräfte im vergangenen Jahr geschrumpft sind. Was angesichts von rund 183 000 Soldatinnen und Soldaten verkraftbar klingt, ist in Wirklichkeit ein höchst alarmierender Befund. Denn eigentlich müsste es in die entgegengesetzte Richtung gehen: Schließlich soll die Armee in den kommenden acht Jahren auf eine Stärke von 203 000 Männern und Frauen anwachsen. Wobei auch dieses Soll aus der Zeit vor dem russischen Überfall auf die Ukraine stammt und womöglich noch einmal angehoben werden wird.
Die Bundeswehr hat ein massives Personalproblem. Das Thema war zuletzt etwas aus dem Blick geraten. Kein Wunder, zogen doch Materialpannen und Beschaffungsdramen, die teuren Panzer und die fehlende Munition sowie natürlich der Krieg in der Ukraine und seine Folgen alle Aufmerksamkeit auf sich. Mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wurde dann zumindest ein Teil der Lösung bereitgestellt. Viel Geld allein reicht aber nicht aus, stellen Militärs, Politik und Öffentlichkeit seit inzwischen einem Jahr gemeinsam fest.
Selbst wenn die neuen Kampfflieger, digitalen Funkgeräte und modernen Korvetten eines Tages wirklich zur Verfügung stehen, braucht es ausreichend viele und geschulte Fachleute, um sie zu bedienen. Und dieser Nachwuchs darf nicht erst seine Laufbahn beginnen, wenn die Geräte auf dem Hof stehen, sondern am besten heute oder morgen.
Doch ein sonderlich attraktiver Arbeitgeber ist die Bundeswehr derzeit nicht: Sicher, die Bezahlung ist nicht schlecht und die Arbeitsplatzsicherheit hoch. Wobei Letzteres in Zeiten, in denen laut Kanzler Olaf Scholz (SPD) weniger die Arbeitslosigkeit, sondern der Arbeitskräftemangel das Problem ist, nicht mehr unbedingt zieht. Und wenn Bewerber dann noch von schimmligen Duschen und Kasernen ohne WLAN hören, ist es wenig überraschend, wenn sie sich für andere Angebote entscheiden.
Übrigens: Als sich die frühere Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) um Flachbildschirme in den Stuben kümmerte, wurde sie vielfach ausgelacht. Immerhin aber hatte sie die Attraktivität der Truppe fest im Blick.
Schließlich geht es gerade bei der Bundeswehr nicht nur darum, die Sollstärke irgendwie zu erfüllen. Wer
Gerade bei der Bundeswehr geht es nicht nur darum, die Sollstärke irgendwie zu erfüllen.
an Waffen ausgebildet wird und für die Sicherheit des Landes verantwortlich ist, sollte nicht irgendwer sein, sondern jemand, der einen sorgfältigen Auswahlprozess durchlaufen hat. Dafür aber muss das Angebot an Bewerbern groß genug sein. Wenn also 2022 trotz weniger Bewerbern mehr Dienstantritte als im Vorjahr zu verzeichnen waren, kann das auch eine bedenkliche Entwicklung sein.
Die Zeit drängt. Bis die Kasernen saniert, die Strukturen verschlankt und die Ausrüstungen modernisiert sind, kann die Truppe eigentlich nicht warten. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) muss also glaubwürdig machen können, dass es besser und die Bundeswehr wieder interessanter werden wird für junge Menschen. Je eher, desto besser.