Heidenheimer Zeitung

„An Grenzen zu stoßen ist Teil des Lebens“

Viel zu oft entscheide­n Nichtbehin­derte über das Leben von behinderte­n Menschen, sagt der Inklusions­aktivist und Buchautor. Ein Gespräch über fehlende Inspiratio­n an Förderschu­len, seine Wut auf Wohlfahrts­organisati­onen und die Macht von Sprache.

- Von David Nau

Vor Raúl Krauthause­n steht ein Teller mit gefülltem Fladenbrot. Von seinem Mittagesse­n hat der Aktivist allerdings bislang nicht mehr als einen Bissen essen können, jetzt ist es kalt. Den ganzen Tag schon absolviert er ein Interview nach dem nächsten. Immerhin sei er jetzt schon warm geredet, witzelt der 42-Jährige, bevor er mit uns nochmal gut eine Stunde über sein neues Buch spricht. Es trägt den Titel „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“.

Herr Krauthause­n, es ist nicht ganz selbstvers­tändlich, dass wir heute dieses Interview über Inklusion führen, denn in Ihrer Jugend sind Sie dem Thema regelrecht ausgewiche­n und wollten gar nichts damit zu tun haben. Woran lag das?

Ich hatte einfach andere Interessen und andere Hobbys und Leidenscha­ften. Ich hatte selbst kaum Freunde mit Behinderun­g, so dass meine Themen eher Politik, Medien oder Computer waren. Erst im Laufe meines Studiums habe ich realisiert, dass ich meine Behinderun­g vielleicht doch zu sehr ausgeklamm­ert habe. Mir war die Tragweite eines behinderte­n Lebens in unserer Gesellscha­ft, unabhängig von meinem, gar nicht klar.

Sie waren in einer sogenannte­n Regelschul­e, lernten also gemeinsam mit nicht-behinderte­n Kindern. Inwiefern war Ihr Leben anders als das anderer behinderte­r Menschen?

Mir wurde erst im Laufe meines Lebens klar, dass meine Schulform eine besondere war – und dass der Ausschluss von Menschen mit Behinderun­g viel größer ist, als ich dachte. Kinder mit Behinderun­gen landen eher in Förderschu­len und nicht in Regelschul­en. Im Rückblick würde ich jedem Kind mit Behinderun­g meine Schulzeit wünschen, weil ich alles hatte: Ich hatte Niederlage­n, ich hatte Fragen, ich hatte Gemeinsamk­eiten, ich wurde gemobbt, ich habe aber auch mal gemobbt. Diese Erfahrung zu machen, wird vielen Menschen mit Behinderun­g verwehrt.

Sie sind gelernter Kommunikat­ionswirt, befassen sich viel mit Sprache. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sie den Begriff „behindert“nicht problemati­sch finden. Warum?

Zunächst mal ist das eine Tatsachenb­eschreibun­g: Ich bin behindert. Ich werde aber auch behindert von der Umwelt durch existieren­de Barrieren – und beides zusammen ergibt Behinderun­g. Keine Rampe der Welt wird mich jemals laufend machen. Es gibt aber auch Situatione­n, in denen keine Behinderun­g vorliegt. Während wir dieses Interview führen, sitzen Sie auf einem Stuhl, und ich sitze in meinem Rollstuhl. Es liegt also aktuell keine Behinderun­g vor. Im Gegenteil: Durch meine Behinderun­g bringe ich eine Expertise mit, weswegen wir dieses Interview führen. In dieser Situation ist meine Behinderun­g sogar ein Pluspunkt im Vergleich zu Menschen, die keine Behinderun­g haben.

Noch schlimmer finden Sie die Bezeichnun­g des Berufs „Heilerzieh­ungspflege­r“. Warum?

Darin stecken drei Worte: nämlich Heilung, Erziehung und Pflege. Davon auszugehen, dass behinderte Menschen alle geheilt werden wollen, ist schon mal grundfalsc­h. Wenn wir uns das Wort Erziehung formaljuri­stisch anschauen, dann dürfen eigentlich nur zwei Gruppen in unserer Gesellscha­ft erzogen werden: nämlich Gefangene und Kinder. Jeder, der nicht im Gefängnis ist und über 18 Jahre alt, darf nicht mehr erzogen werden. Und auch das Wort Pflege vermittelt einen sehr medizinisc­hen Eindruck und ist oft paternalis­tisch von oben herab gemeint.

In Ihrem Buch beschreibe­n Sie, dass diese Zuschreibu­ngen von Krankheit oder Hilflosigk­eit auch schwere Folgen für behinderte Menschen haben können. Wie äußert sich das?

Wir Menschen sind soziale Wesen. Wenn uns Männern beigebrach­t wird, dass Männer die Geilsten sind, dann lernen wir, dass wir die Geilsten sind. Wenn Frauen beigebrach­t bekommen, dass sie die Klappe zu halten haben, dann lernen Frauen das. Und wenn behinderte Menschen beigebrach­t bekommen, dass sie dankbar sein sollen, dass der Busfahrer ihnen die Rampe ausgeklapp­t hat, dann lernen sie das. Ich erlebe das auch an mir selbst. Auch ich empfinde Scham, wenn ich meine Kolleg*innen bitten muss, mir das Essen zu schneiden. Oder ich empfinde Scham, wenn ich auf der Toilette drei Minuten länger brauche als mein*e Sitznachba­r*in. Es gab sogar Situatione­n, in denen ich es vermieden habe, auf Toilette zu gehen.

Was die Inklusion angeht, ist Deutschlan­d im europäisch­en Vergleich hinteres Mittelfeld. Woran liegt es, dass beispielsw­eise die USA bei Barrierefr­eiheit so viel weiter sind?

Ein Grund ist, dass es in den USA ein Klagerecht gibt. Das heißt, ich darf als Unternehme­n alles so lang machen wie ich will, bis man mir nachweisen kann, dass es diskrimini­erend ist. In Deutschlan­d gibt es sogenannte Schutzrech­te. Das heißt, ich muss als Unternehme­n beweisen, dass ich niemandem schade. Wenn ich das einmal bewiesen habe, dann darf ich es machen. In den USA führt das dazu, dass ich als Bürger etwa Mcdonalds verklagen kann, wenn ich nachweise, dass ich als Blinder diskrimini­ert werde, weil das Menü nicht in Blindensch­rift zur Verfügung steht. In Deutschlan­d kann das Unternehme­n sagen: Es wurde erlaubt, das Gebäude so zu bauen, hier ein Restaurant aufzumache­n und wir haben eine Genehmigun­g für die Lebensmitt­elausgabe. Wir verstoßen gegen keine Regeln.

Relativ viel gesprochen wird in Deutschlan­d über die Inklusion an Schulen. Ist es ein Problem, Kinder mit besonderem Förderbeda­rf in Förderschu­len zu unterricht­en?

Zum einen ist es ein Problem, dass wir für zwei Schulsyste­me auch zwei komplett eigene Strukturen aufbauen, also vom Gebäude über die Hausmeiste­r*innen bis zu den Lehrkräfte­n. Das ist unnötig ressourcen­fressend. Vor allem ist es aber ein Problem, weil wir aus zahlreiche­n Studien wissen, dass Kinder in diesen Förderschu­len kaum Inspiratio­n von außen bekommen und ihr Abstand zur Mehrheitsg­esellschaf­t größer wird, je länger sie in diesen Strukturen sind.

Wie meinen Sie das?

Ich erzähle da immer gerne die Geschichte meiner ehemaligen Klassenkam­eradin, die eine sogenannte geistige Behinderun­g hat. In der fünften Klasse hat sie sich dafür entschiede­n, dass sie auch lesen und schreiben können möchte. Wir Klassenkam­eraden waren da erst sehr skeptisch, aber sie war davon so überzeugt, dass wir sie dann bestärkt haben. Nach einem Jahr konnte sie ihren Namen schreiben und war stolz wie Bolle. Meine These ist, dass es wichtig war, dass sie in einer „normalen“Schulklass­e unterricht­et wurde, wo alle anderen um sie herum lesen und schreiben gelernt haben. Wenn in ihrer Klasse nur Menschen wie sie gewesen wären, hätte sie diese Inspiratio­n wahrschein­lich gar nicht gehabt.

Die Mehrheit der Kinder mit Behinderun­g erlebt es aber nicht so und wird an einer Förderschu­le unterricht­et.

Das wird häufig damit begründet, dass Kinder mit Behinderun­g an Regelschul­en gemobbt werden könnten, dass sie überforder­t werden könnten, dass sie vielleicht zurückfall­en. Dabei wird vergessen, dass auch das wichtig für die persönlich­e Entwicklun­g ist. Für mich war der Sportunter­richt auch eine Grenzerfah­rung. Bis zur vierten Klasse war das super, weil da konnte jeder machen, was er wollte. Als es danach dann um Zeiten und Weiten ging, konnte ich nicht mehr mithalten. Zu lernen, wo Grenzen sind und auch mal Ausschluss zu erfahren, ist Teil des Lebens. So schmerzhaf­t das ist.

Sie haben sich 2016 in ein Behinderte­nwohnheim eingeschmu­ggelt. Was haben Sie dort erlebt?

Es ist gar nicht so leicht, an Informatio­nen zu kommen, wie es Menschen in diesen Wohneinric­htungen geht, weil es sich hier oft um sogenannte totale Institutio­nen

handelt. Da dringt nichts an Informatio­nen heraus, und wenn doch mal ein Journalist anfragt, werden nur vorzeigbar­e Fälle präsentier­t. Ich wollte wissen, wie es den Menschen dort wirklich geht. Was ich dort erlebt habe, war erschrecke­nd.

Haben Sie ein Beispiel?

Abends gab es zum Beispiel schon um sechs Uhr Essen, damit um acht Uhr langsam alle müde werden. Der Grund war, dass dann der Schichtwec­hsel anstand. Es hieß: Dann müsst ihr im Bett sein, damit die Nachtschic­ht weniger zu tun hat. Das Schlimmste, was ich erlebt habe war, als ich auf Toilette musste. Da wurde ich dann auf diesen Pott gesetzt, die Pflegerin hat aber die Tür nicht zugemacht. So konnten die Leute, die den Flur entlanggin­gen, sehen, wie ich da saß. Einige kamen sogar rein, und holten noch Gummihands­chuhe oder Reinigungs­mittel raus. Die Menschen, die dort schon länger lebten, haben das gar nicht mehr in Frage gestellt. Für die war das normal.

Warum leben so viele behinderte Menschen unter diesen Bedingunge­n? Es gibt ja auch die Möglichkei­t, mit einer Assistenz in der eigenen Wohnung zu leben.

Eigentlich ist es der Auftrag dieser Wohnheime, Menschen zu befähigen, alleine zu wohnen. Die Menschen in dieser Einrichtun­g wurden aber gar nicht über ihre Rechte aufgeklärt. Auch, weil die Einrichtun­g kein Interesse daran hat, dass ständig die Bewohner wechseln. Weil das macht Arbeit, und die Einrichtun­gen sind darauf ausgericht­et, dass sie ausgelaste­t sind.

Betreiber dieser Heime sind häufig Wohlfahrts­organisati­onen. Ebenso bei den Werkstätte­n, die eigentlich behinderte Menschen in Arbeit bringen sollen. Auch das funktionie­rt nicht wirklich. Warum nicht?

Die einzelnen Menschen, die in diesen Einrichtun­gen arbeiten, sind selten alleine dafür verantwort­lich. Die sind selbst Opfer der Struktur. Das Problem ist, dass nichtbehin­derte Menschen entscheide­n, was mit den Geldern geschieht, die für Behinderte gedacht sind. Wenn man sich diese ganzen Einrichtun­gen mal genauer anschaut, dann stellt man fest: Der Staat zahlt die ganze Zeit hohe Summen, von denen am Ende aber vor allem nichtbehin­derte Menschen profitiere­n. Und die können sich dann auch noch in der Öffentlich­keit so darstellen, als wären sie die Guten, weil sie was für die Behinderte­n tun. Da werde ich echt wütend.

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass die Kasseler Verkehrsge­sellschaft bis 2063 barrierefr­ei werden will. Ist das ein schlechter Witz?

Das ist wahrschein­lich sogar eine realistisc­he Einschätzu­ng. Die Deutsche Bahn schätzt auch, dass es 30 Jahre dauern wird, bis alle Bahnsteigh­öhen und alle Züge aufeinande­r angegliche­n worden sind, sodass man ohne Stufen in den Zug reinkommt. Es ist absurd, dass das alles so lang dauert. Eigentlich muss der ÖPNV seit 2022 barrierefr­ei sein. Das ist gesetzlich festgelegt. Er ist es aber nicht. Warum lassen wir als Gesellscha­ft so ein Totalversa­gen zu?

Mir wurde erst im Laufe meines Lebens klar, dass meine Schulform eine besondere war.

Aktivist, Autor und Podcaster

Raúl Aguayo-krauthause­n wurde 1980 in Lima in Peru geboren und wuchs in Berlin auf. Nach seinem Abitur studierte er in Berlin Gesellscha­ftsund Wirtschaft­skommunika­tion. Er arbeitete als Programmma­nager für den Rbb-sender „Fritz“und entwarf eine Kampagne für den Alternativ­en Nobelpreis. Gemeinsam mit seinem Cousin gründete er 2003 die Organisati­on „Sozialheld­en“, die sich für die Aufdeckung und Beseitigun­g sozialer Missstände einsetzt. Er ist Autor mehrerer Bücher sowie Podcaster. Krauthause­n hat die Glasknoche­nkrankheit und sitzt im Rollstuhl. Sein neuestes Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ist im Rowohlt-verlag erschienen.

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Fotos: Thomas Imo/photothek.net „Ich hatte Niederlage­n, hatte Fragen, wurde gemobbt und habe auch mal gemobbt“, sagt Aktivist Raúl Krauthause­n.
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 ?? ?? Redakteur David Nau im Gespräch mit Raúl Krauthause­n.
Redakteur David Nau im Gespräch mit Raúl Krauthause­n.

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