„An Grenzen zu stoßen ist Teil des Lebens“
Viel zu oft entscheiden Nichtbehinderte über das Leben von behinderten Menschen, sagt der Inklusionsaktivist und Buchautor. Ein Gespräch über fehlende Inspiration an Förderschulen, seine Wut auf Wohlfahrtsorganisationen und die Macht von Sprache.
Vor Raúl Krauthausen steht ein Teller mit gefülltem Fladenbrot. Von seinem Mittagessen hat der Aktivist allerdings bislang nicht mehr als einen Bissen essen können, jetzt ist es kalt. Den ganzen Tag schon absolviert er ein Interview nach dem nächsten. Immerhin sei er jetzt schon warm geredet, witzelt der 42-Jährige, bevor er mit uns nochmal gut eine Stunde über sein neues Buch spricht. Es trägt den Titel „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“.
Herr Krauthausen, es ist nicht ganz selbstverständlich, dass wir heute dieses Interview über Inklusion führen, denn in Ihrer Jugend sind Sie dem Thema regelrecht ausgewichen und wollten gar nichts damit zu tun haben. Woran lag das?
Ich hatte einfach andere Interessen und andere Hobbys und Leidenschaften. Ich hatte selbst kaum Freunde mit Behinderung, so dass meine Themen eher Politik, Medien oder Computer waren. Erst im Laufe meines Studiums habe ich realisiert, dass ich meine Behinderung vielleicht doch zu sehr ausgeklammert habe. Mir war die Tragweite eines behinderten Lebens in unserer Gesellschaft, unabhängig von meinem, gar nicht klar.
Sie waren in einer sogenannten Regelschule, lernten also gemeinsam mit nicht-behinderten Kindern. Inwiefern war Ihr Leben anders als das anderer behinderter Menschen?
Mir wurde erst im Laufe meines Lebens klar, dass meine Schulform eine besondere war – und dass der Ausschluss von Menschen mit Behinderung viel größer ist, als ich dachte. Kinder mit Behinderungen landen eher in Förderschulen und nicht in Regelschulen. Im Rückblick würde ich jedem Kind mit Behinderung meine Schulzeit wünschen, weil ich alles hatte: Ich hatte Niederlagen, ich hatte Fragen, ich hatte Gemeinsamkeiten, ich wurde gemobbt, ich habe aber auch mal gemobbt. Diese Erfahrung zu machen, wird vielen Menschen mit Behinderung verwehrt.
Sie sind gelernter Kommunikationswirt, befassen sich viel mit Sprache. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sie den Begriff „behindert“nicht problematisch finden. Warum?
Zunächst mal ist das eine Tatsachenbeschreibung: Ich bin behindert. Ich werde aber auch behindert von der Umwelt durch existierende Barrieren – und beides zusammen ergibt Behinderung. Keine Rampe der Welt wird mich jemals laufend machen. Es gibt aber auch Situationen, in denen keine Behinderung vorliegt. Während wir dieses Interview führen, sitzen Sie auf einem Stuhl, und ich sitze in meinem Rollstuhl. Es liegt also aktuell keine Behinderung vor. Im Gegenteil: Durch meine Behinderung bringe ich eine Expertise mit, weswegen wir dieses Interview führen. In dieser Situation ist meine Behinderung sogar ein Pluspunkt im Vergleich zu Menschen, die keine Behinderung haben.
Noch schlimmer finden Sie die Bezeichnung des Berufs „Heilerziehungspfleger“. Warum?
Darin stecken drei Worte: nämlich Heilung, Erziehung und Pflege. Davon auszugehen, dass behinderte Menschen alle geheilt werden wollen, ist schon mal grundfalsch. Wenn wir uns das Wort Erziehung formaljuristisch anschauen, dann dürfen eigentlich nur zwei Gruppen in unserer Gesellschaft erzogen werden: nämlich Gefangene und Kinder. Jeder, der nicht im Gefängnis ist und über 18 Jahre alt, darf nicht mehr erzogen werden. Und auch das Wort Pflege vermittelt einen sehr medizinischen Eindruck und ist oft paternalistisch von oben herab gemeint.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass diese Zuschreibungen von Krankheit oder Hilflosigkeit auch schwere Folgen für behinderte Menschen haben können. Wie äußert sich das?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wenn uns Männern beigebracht wird, dass Männer die Geilsten sind, dann lernen wir, dass wir die Geilsten sind. Wenn Frauen beigebracht bekommen, dass sie die Klappe zu halten haben, dann lernen Frauen das. Und wenn behinderte Menschen beigebracht bekommen, dass sie dankbar sein sollen, dass der Busfahrer ihnen die Rampe ausgeklappt hat, dann lernen sie das. Ich erlebe das auch an mir selbst. Auch ich empfinde Scham, wenn ich meine Kolleg*innen bitten muss, mir das Essen zu schneiden. Oder ich empfinde Scham, wenn ich auf der Toilette drei Minuten länger brauche als mein*e Sitznachbar*in. Es gab sogar Situationen, in denen ich es vermieden habe, auf Toilette zu gehen.
Was die Inklusion angeht, ist Deutschland im europäischen Vergleich hinteres Mittelfeld. Woran liegt es, dass beispielsweise die USA bei Barrierefreiheit so viel weiter sind?
Ein Grund ist, dass es in den USA ein Klagerecht gibt. Das heißt, ich darf als Unternehmen alles so lang machen wie ich will, bis man mir nachweisen kann, dass es diskriminierend ist. In Deutschland gibt es sogenannte Schutzrechte. Das heißt, ich muss als Unternehmen beweisen, dass ich niemandem schade. Wenn ich das einmal bewiesen habe, dann darf ich es machen. In den USA führt das dazu, dass ich als Bürger etwa Mcdonalds verklagen kann, wenn ich nachweise, dass ich als Blinder diskriminiert werde, weil das Menü nicht in Blindenschrift zur Verfügung steht. In Deutschland kann das Unternehmen sagen: Es wurde erlaubt, das Gebäude so zu bauen, hier ein Restaurant aufzumachen und wir haben eine Genehmigung für die Lebensmittelausgabe. Wir verstoßen gegen keine Regeln.
Relativ viel gesprochen wird in Deutschland über die Inklusion an Schulen. Ist es ein Problem, Kinder mit besonderem Förderbedarf in Förderschulen zu unterrichten?
Zum einen ist es ein Problem, dass wir für zwei Schulsysteme auch zwei komplett eigene Strukturen aufbauen, also vom Gebäude über die Hausmeister*innen bis zu den Lehrkräften. Das ist unnötig ressourcenfressend. Vor allem ist es aber ein Problem, weil wir aus zahlreichen Studien wissen, dass Kinder in diesen Förderschulen kaum Inspiration von außen bekommen und ihr Abstand zur Mehrheitsgesellschaft größer wird, je länger sie in diesen Strukturen sind.
Wie meinen Sie das?
Ich erzähle da immer gerne die Geschichte meiner ehemaligen Klassenkameradin, die eine sogenannte geistige Behinderung hat. In der fünften Klasse hat sie sich dafür entschieden, dass sie auch lesen und schreiben können möchte. Wir Klassenkameraden waren da erst sehr skeptisch, aber sie war davon so überzeugt, dass wir sie dann bestärkt haben. Nach einem Jahr konnte sie ihren Namen schreiben und war stolz wie Bolle. Meine These ist, dass es wichtig war, dass sie in einer „normalen“Schulklasse unterrichtet wurde, wo alle anderen um sie herum lesen und schreiben gelernt haben. Wenn in ihrer Klasse nur Menschen wie sie gewesen wären, hätte sie diese Inspiration wahrscheinlich gar nicht gehabt.
Die Mehrheit der Kinder mit Behinderung erlebt es aber nicht so und wird an einer Förderschule unterrichtet.
Das wird häufig damit begründet, dass Kinder mit Behinderung an Regelschulen gemobbt werden könnten, dass sie überfordert werden könnten, dass sie vielleicht zurückfallen. Dabei wird vergessen, dass auch das wichtig für die persönliche Entwicklung ist. Für mich war der Sportunterricht auch eine Grenzerfahrung. Bis zur vierten Klasse war das super, weil da konnte jeder machen, was er wollte. Als es danach dann um Zeiten und Weiten ging, konnte ich nicht mehr mithalten. Zu lernen, wo Grenzen sind und auch mal Ausschluss zu erfahren, ist Teil des Lebens. So schmerzhaft das ist.
Sie haben sich 2016 in ein Behindertenwohnheim eingeschmuggelt. Was haben Sie dort erlebt?
Es ist gar nicht so leicht, an Informationen zu kommen, wie es Menschen in diesen Wohneinrichtungen geht, weil es sich hier oft um sogenannte totale Institutionen
handelt. Da dringt nichts an Informationen heraus, und wenn doch mal ein Journalist anfragt, werden nur vorzeigbare Fälle präsentiert. Ich wollte wissen, wie es den Menschen dort wirklich geht. Was ich dort erlebt habe, war erschreckend.
Haben Sie ein Beispiel?
Abends gab es zum Beispiel schon um sechs Uhr Essen, damit um acht Uhr langsam alle müde werden. Der Grund war, dass dann der Schichtwechsel anstand. Es hieß: Dann müsst ihr im Bett sein, damit die Nachtschicht weniger zu tun hat. Das Schlimmste, was ich erlebt habe war, als ich auf Toilette musste. Da wurde ich dann auf diesen Pott gesetzt, die Pflegerin hat aber die Tür nicht zugemacht. So konnten die Leute, die den Flur entlanggingen, sehen, wie ich da saß. Einige kamen sogar rein, und holten noch Gummihandschuhe oder Reinigungsmittel raus. Die Menschen, die dort schon länger lebten, haben das gar nicht mehr in Frage gestellt. Für die war das normal.
Warum leben so viele behinderte Menschen unter diesen Bedingungen? Es gibt ja auch die Möglichkeit, mit einer Assistenz in der eigenen Wohnung zu leben.
Eigentlich ist es der Auftrag dieser Wohnheime, Menschen zu befähigen, alleine zu wohnen. Die Menschen in dieser Einrichtung wurden aber gar nicht über ihre Rechte aufgeklärt. Auch, weil die Einrichtung kein Interesse daran hat, dass ständig die Bewohner wechseln. Weil das macht Arbeit, und die Einrichtungen sind darauf ausgerichtet, dass sie ausgelastet sind.
Betreiber dieser Heime sind häufig Wohlfahrtsorganisationen. Ebenso bei den Werkstätten, die eigentlich behinderte Menschen in Arbeit bringen sollen. Auch das funktioniert nicht wirklich. Warum nicht?
Die einzelnen Menschen, die in diesen Einrichtungen arbeiten, sind selten alleine dafür verantwortlich. Die sind selbst Opfer der Struktur. Das Problem ist, dass nichtbehinderte Menschen entscheiden, was mit den Geldern geschieht, die für Behinderte gedacht sind. Wenn man sich diese ganzen Einrichtungen mal genauer anschaut, dann stellt man fest: Der Staat zahlt die ganze Zeit hohe Summen, von denen am Ende aber vor allem nichtbehinderte Menschen profitieren. Und die können sich dann auch noch in der Öffentlichkeit so darstellen, als wären sie die Guten, weil sie was für die Behinderten tun. Da werde ich echt wütend.
Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass die Kasseler Verkehrsgesellschaft bis 2063 barrierefrei werden will. Ist das ein schlechter Witz?
Das ist wahrscheinlich sogar eine realistische Einschätzung. Die Deutsche Bahn schätzt auch, dass es 30 Jahre dauern wird, bis alle Bahnsteighöhen und alle Züge aufeinander angeglichen worden sind, sodass man ohne Stufen in den Zug reinkommt. Es ist absurd, dass das alles so lang dauert. Eigentlich muss der ÖPNV seit 2022 barrierefrei sein. Das ist gesetzlich festgelegt. Er ist es aber nicht. Warum lassen wir als Gesellschaft so ein Totalversagen zu?
Mir wurde erst im Laufe meines Lebens klar, dass meine Schulform eine besondere war.
Aktivist, Autor und Podcaster
Raúl Aguayo-krauthausen wurde 1980 in Lima in Peru geboren und wuchs in Berlin auf. Nach seinem Abitur studierte er in Berlin Gesellschaftsund Wirtschaftskommunikation. Er arbeitete als Programmmanager für den Rbb-sender „Fritz“und entwarf eine Kampagne für den Alternativen Nobelpreis. Gemeinsam mit seinem Cousin gründete er 2003 die Organisation „Sozialhelden“, die sich für die Aufdeckung und Beseitigung sozialer Missstände einsetzt. Er ist Autor mehrerer Bücher sowie Podcaster. Krauthausen hat die Glasknochenkrankheit und sitzt im Rollstuhl. Sein neuestes Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ist im Rowohlt-verlag erschienen.