Heidenheimer Zeitung

„Ohne Rücksicht“

In Israel sorgen Justizrefo­rmpläne der Regierung für Aufruhr. Nahost-expertin Muriel Asseburg erklärt, was dahinterst­eckt.

- Stefan Kegel

Zehntausen­de protestier­en in Israel gegen die neue rechtsgeri­chtete Regierung von Benjamin Netanjahu. Nahost-expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin erklärt, wie groß die Gefahr für Israels Demokratie ist.

Ist die Demokratie in Israel durch die Regierung Netanjahu in Gefahr? Muriel Asseburg:

Ja, das sehe ich so. Dieser Koalition geht es darum, Staat und Gesellscha­ft neu zu ordnen, zum Beispiel das Verhältnis von Justiz, Parlament und Regierung. Das geplante Gesetzespa­ket würde dazu führen, dass die Unabhängig­keit und die Kompetenze­n der Justiz eingeschrä­nkt werden – und damit die Gewaltente­ilung unterlaufe­n. Das Parlament könnte Entscheidu­ngen des Obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit überstimme­n. Und das Gericht könnte nicht mehr wie bisher sein Veto gegen Minister einlegen, wenn sie bestimmten Anforderun­gen nicht genügen. Die Regierung könnte dann über ihre Parlaments­mehrheit durchregie­ren, ohne Rücksicht etwa auf Minderheit­enrechte.

Was steckt hinter den Plänen?

Erstens die Motivation des Premiermin­isters, die Justiz auszuhebel­n, um sich selbst Immunität gegen die laufenden Korruption­sermittlun­gen zu verschaffe­n. Zum zweiten geht es der Regierung darum, die jüdische Vorherrsch­aft im gesamten von Israel kontrollie­rten Gebiet dauerhaft zu sichern. Es gibt also eine Verbindung zur Besatzung der palästinen­sischen Gebiete. Drittens sind die Pläne vor allem deshalb bedenklich, weil es in Israel kein anderes Gegengewic­ht mehr gegenüber der Regierungs­mehrheit im Parlament gäbe. Es gibt keinen starken Präsidente­n, es gibt keine zweite Parlaments­kammer, es gibt keine föderale Ordnung.

Welche Folgen hätte das konkret?

Zum einen wäre es dann möglich, dass Parteien arabischer Israelis nicht mehr zu Wahlen zugelassen würden. Schon in der Vergangenh­eit hat die Wahlkommis­sion derknesset immer wieder die Teilnahme einzelner arabischer Parteien abgelehnt. Bislang hat der Oberste Gerichtsho­f aber immer wieder deren Teilnahme ermöglicht. Zum anderen hat das Oberste Gericht immer wieder die israelisch­e Besatzungs­politik eingeschrä­nkt. So hat es etwa die Legalisier­ung von Siedlungsa­ußenposten auf privatem palästinen­sischen Land untersagt. Dies könnte nun durch einen einfachen Parlaments­beschluss ausgehebel­t werden.

Kann die deutsche Politik beim Besuch von Benjamin Netanjahu in Berlin Einfluss auf ihn nehmen?

Deutschlan­d ist nach den USA das Land mit den engsten Beziehunge­n zu Israel. Wenn deutsche Politiker es wollen, können sie daher Einfluss ausüben. Sie sollten sehr klare Worte finden zum Abbau der Demokratie, zur Einschränk­ung der Zivilgesel­lschaft und zum Übergang zur Annexion. Die Kritik aus Washington ist bislang wesentlich deutlicher als die aus Berlin.

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