„Ohne Rücksicht“
In Israel sorgen Justizreformpläne der Regierung für Aufruhr. Nahost-expertin Muriel Asseburg erklärt, was dahintersteckt.
Zehntausende protestieren in Israel gegen die neue rechtsgerichtete Regierung von Benjamin Netanjahu. Nahost-expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin erklärt, wie groß die Gefahr für Israels Demokratie ist.
Ist die Demokratie in Israel durch die Regierung Netanjahu in Gefahr? Muriel Asseburg:
Ja, das sehe ich so. Dieser Koalition geht es darum, Staat und Gesellschaft neu zu ordnen, zum Beispiel das Verhältnis von Justiz, Parlament und Regierung. Das geplante Gesetzespaket würde dazu führen, dass die Unabhängigkeit und die Kompetenzen der Justiz eingeschränkt werden – und damit die Gewaltenteilung unterlaufen. Das Parlament könnte Entscheidungen des Obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit überstimmen. Und das Gericht könnte nicht mehr wie bisher sein Veto gegen Minister einlegen, wenn sie bestimmten Anforderungen nicht genügen. Die Regierung könnte dann über ihre Parlamentsmehrheit durchregieren, ohne Rücksicht etwa auf Minderheitenrechte.
Was steckt hinter den Plänen?
Erstens die Motivation des Premierministers, die Justiz auszuhebeln, um sich selbst Immunität gegen die laufenden Korruptionsermittlungen zu verschaffen. Zum zweiten geht es der Regierung darum, die jüdische Vorherrschaft im gesamten von Israel kontrollierten Gebiet dauerhaft zu sichern. Es gibt also eine Verbindung zur Besatzung der palästinensischen Gebiete. Drittens sind die Pläne vor allem deshalb bedenklich, weil es in Israel kein anderes Gegengewicht mehr gegenüber der Regierungsmehrheit im Parlament gäbe. Es gibt keinen starken Präsidenten, es gibt keine zweite Parlamentskammer, es gibt keine föderale Ordnung.
Welche Folgen hätte das konkret?
Zum einen wäre es dann möglich, dass Parteien arabischer Israelis nicht mehr zu Wahlen zugelassen würden. Schon in der Vergangenheit hat die Wahlkommission derknesset immer wieder die Teilnahme einzelner arabischer Parteien abgelehnt. Bislang hat der Oberste Gerichtshof aber immer wieder deren Teilnahme ermöglicht. Zum anderen hat das Oberste Gericht immer wieder die israelische Besatzungspolitik eingeschränkt. So hat es etwa die Legalisierung von Siedlungsaußenposten auf privatem palästinensischen Land untersagt. Dies könnte nun durch einen einfachen Parlamentsbeschluss ausgehebelt werden.
Kann die deutsche Politik beim Besuch von Benjamin Netanjahu in Berlin Einfluss auf ihn nehmen?
Deutschland ist nach den USA das Land mit den engsten Beziehungen zu Israel. Wenn deutsche Politiker es wollen, können sie daher Einfluss ausüben. Sie sollten sehr klare Worte finden zum Abbau der Demokratie, zur Einschränkung der Zivilgesellschaft und zum Übergang zur Annexion. Die Kritik aus Washington ist bislang wesentlich deutlicher als die aus Berlin.