Diskussion um Pflichtlektüre
Der Roman „Tauben im Gras“ist Abi-stoff an beruflichen Gymnasien. Eine Lehrerin geht dagegen vor und hat eine Diskussion im Land entfacht.
Eine Lehrerin eines beruflichen Gymnasiums in Ulm hat vorübergehend aufgehört, dort zu unterrichten. Der Grund: Als Deutschlehrerin hätte Jasmin Blunt mit den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe den Roman „Tauben im Gras“von Wolfgang Koeppen behandeln müssen – einen Roman, der rassistische Sprache beinhaltet. Weil in der Lektüre beispielsweise etliche Male das N-wort auftaucht, sieht sich Blunt selbst in ihrer Menschenwürde verletzt. Mit einer Petition, die sie beim Landtag eingereicht hat, will sie nun gegen die Einstufung des Buches als Pflichtlektüre für das Abitur 2024 vorgehen. Ihre Hoffnung: Dass der „Unterricht zu einem sicheren und rassismusfreien Ort für alle“wird.
Auch andere Lehrer diskutieren
Die Diskussion scheint nun auch in den Lehrerzimmern der beruflichen Gymnasien in Baden-württemberg angekommen zu sein, wie Thomas Speck, Vorsitzender des Berufsschullehrerverbands (BLV) im Südwesten, auf Anfrage berichtet. Seiner Ulmer Lehrerkollegin stimmt Speck insofern zu, als auch er sagt: „Ja, Rassismus wird im Werk dargelegt, und zwar in abstoßender, ekelerregender Tendenz.“
Dennoch ist Speck überzeugt, dass die Lehrkräfte den Rassismus im Werk erkennen und im Unterricht angemessen problematisieren können. „Auch, weil es Fortbildungsangebote und für Lehrkräfte entsprechende Handreichungen gibt“, sagt der Bvlvorsitzende.
Die Kritik Blunts dürfe jedoch nicht kleingeredet werden. Einen Automatismus zum Einsatz rassistischer Sprache im Unterricht darf es Speck zufolge nicht geben. Außerdem werde über den Roman durchaus auch in anderen Kollegien der Berufsschullehrerschaft diskutiert: „Die einen sagen, als Lehrkräfte müssen wir unserer Aufgabe gerecht werden und die Schüler, die dem Bildungsplan jetzt unterliegen, aufs Abitur vorbereiten.“Andere wiederum seien der Ansicht, dass man eine andere Lektüre hätte wählen können, um das Thema Rassismus angemessen zu behandeln. Speck weiß aber auch von Lehrkräften, die sich vor dem Hintergrund dieser Aufgabe nun „stark gefordert“sehen.
Die Landtags-fraktion der Grünen hat eine Anfrage der SÜDWEST PRESSE mit Bitte um Stellungnahme bis dato nicht beantwortet. Aus dem Landtag hat sich aber Stefan Fulst-blei, bildungspolitischer Sprecher der Spd-fraktion, geäußert. Er teilte mit: „Auch wir sehen viele Passagen in diesem Buch sehr kritisch, insbesondere, wenn keine angemessene pädagogische Begleitung der Lektüre im Unterricht stattfindet.“Der erste Schritt müsse deshalb nun sein, alle Beteiligten
an einen Tisch zu holen und gemeinsam die vorliegenden Argumente auszutauschen, sagt der Abgeordnete. „Wichtig ist, dass das Kultusministerium die geäußerten Bedenken ernst nimmt.“
Rainer Balzer, Landtagsabgeordneter der AFD, äußert indes in einer Pressemitteilung scharfe Kritik an der Ulmer Lehrerin: „Eine infantile Betroffenheitsaktivistin will per Streik ihren Willen durchsetzen. Da frage ich mich ernsthaft, wie solche Personen hierzulande überhaupt Lehrer werden durften.“
Sigrid Köhler, Literaturwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Tübingen, pflichtet der Lehrerin dagegen bei: „Ich finde es tatsächlich auch schwierig, so einen Roman als Pflichtlektüre zu lesen“, sagt Köhler. Und zwar aus zweierlei Gründen: Die Behandlung der Lektüre müsse sicherstellen, dass die strukturelle Normalität von Rassismus in den Fünfzigern nicht nur als Nebenschauplatz thematisiert werde. „Ich kenne den Roman nicht gut, aber die Figurenkonstellation scheint durch und durch auf rassistischen Einstellungen aufgebaut zu sein.“Diesen Rassismus mit Schülerinnen und Schülern in einer nicht-rassistischen, gewaltfreien Sprache zu thematisieren, ist nach Einschätzung der Professorin „gar nicht so einfach und nicht eben mal in einer Fortbildung zu lernen“.
Von Schülerinnen und Schülern mit Diskriminierungserfahrungen zu erwarten, dass sie distanziert und analytisch mit einem rassistischen Text umgehen und dazu die eigenen Verletzungen beiseiteschieben können, sieht Köhler kritisch. „Das nimmt die womöglich aktuellen rassistischen Diskriminierungserfahrungen dieser Menschen und die daraus resultierenden Verletzungen nicht ernst und privilegiert bei der Schullektüreauswahl die Normalität eines Lebens ohne rassistische Erfahrung, also des Weißseins.“