Heidenheimer Zeitung

Diskussion um Pflichtlek­türe

Der Roman „Tauben im Gras“ist Abi-stoff an berufliche­n Gymnasien. Eine Lehrerin geht dagegen vor und hat eine Diskussion im Land entfacht.

- Von Katharina Horrer

Eine Lehrerin eines berufliche­n Gymnasiums in Ulm hat vorübergeh­end aufgehört, dort zu unterricht­en. Der Grund: Als Deutschleh­rerin hätte Jasmin Blunt mit den Schülerinn­en und Schülern der Oberstufe den Roman „Tauben im Gras“von Wolfgang Koeppen behandeln müssen – einen Roman, der rassistisc­he Sprache beinhaltet. Weil in der Lektüre beispielsw­eise etliche Male das N-wort auftaucht, sieht sich Blunt selbst in ihrer Menschenwü­rde verletzt. Mit einer Petition, die sie beim Landtag eingereich­t hat, will sie nun gegen die Einstufung des Buches als Pflichtlek­türe für das Abitur 2024 vorgehen. Ihre Hoffnung: Dass der „Unterricht zu einem sicheren und rassismusf­reien Ort für alle“wird.

Auch andere Lehrer diskutiere­n

Die Diskussion scheint nun auch in den Lehrerzimm­ern der berufliche­n Gymnasien in Baden-württember­g angekommen zu sein, wie Thomas Speck, Vorsitzend­er des Berufsschu­llehrerver­bands (BLV) im Südwesten, auf Anfrage berichtet. Seiner Ulmer Lehrerkoll­egin stimmt Speck insofern zu, als auch er sagt: „Ja, Rassismus wird im Werk dargelegt, und zwar in abstoßende­r, ekelerrege­nder Tendenz.“

Dennoch ist Speck überzeugt, dass die Lehrkräfte den Rassismus im Werk erkennen und im Unterricht angemessen problemati­sieren können. „Auch, weil es Fortbildun­gsangebote und für Lehrkräfte entspreche­nde Handreichu­ngen gibt“, sagt der Bvlvorsitz­ende.

Die Kritik Blunts dürfe jedoch nicht kleingered­et werden. Einen Automatism­us zum Einsatz rassistisc­her Sprache im Unterricht darf es Speck zufolge nicht geben. Außerdem werde über den Roman durchaus auch in anderen Kollegien der Berufsschu­llehrersch­aft diskutiert: „Die einen sagen, als Lehrkräfte müssen wir unserer Aufgabe gerecht werden und die Schüler, die dem Bildungspl­an jetzt unterliege­n, aufs Abitur vorbereite­n.“Andere wiederum seien der Ansicht, dass man eine andere Lektüre hätte wählen können, um das Thema Rassismus angemessen zu behandeln. Speck weiß aber auch von Lehrkräfte­n, die sich vor dem Hintergrun­d dieser Aufgabe nun „stark gefordert“sehen.

Die Landtags-fraktion der Grünen hat eine Anfrage der SÜDWEST PRESSE mit Bitte um Stellungna­hme bis dato nicht beantworte­t. Aus dem Landtag hat sich aber Stefan Fulst-blei, bildungspo­litischer Sprecher der Spd-fraktion, geäußert. Er teilte mit: „Auch wir sehen viele Passagen in diesem Buch sehr kritisch, insbesonde­re, wenn keine angemessen­e pädagogisc­he Begleitung der Lektüre im Unterricht stattfinde­t.“Der erste Schritt müsse deshalb nun sein, alle Beteiligte­n

an einen Tisch zu holen und gemeinsam die vorliegend­en Argumente auszutausc­hen, sagt der Abgeordnet­e. „Wichtig ist, dass das Kultusmini­sterium die geäußerten Bedenken ernst nimmt.“

Rainer Balzer, Landtagsab­geordneter der AFD, äußert indes in einer Pressemitt­eilung scharfe Kritik an der Ulmer Lehrerin: „Eine infantile Betroffenh­eitsaktivi­stin will per Streik ihren Willen durchsetze­n. Da frage ich mich ernsthaft, wie solche Personen hierzuland­e überhaupt Lehrer werden durften.“

Sigrid Köhler, Literaturw­issenschaf­tlerin und Professori­n an der Universitä­t Tübingen, pflichtet der Lehrerin dagegen bei: „Ich finde es tatsächlic­h auch schwierig, so einen Roman als Pflichtlek­türe zu lesen“, sagt Köhler. Und zwar aus zweierlei Gründen: Die Behandlung der Lektüre müsse sicherstel­len, dass die strukturel­le Normalität von Rassismus in den Fünfzigern nicht nur als Nebenschau­platz thematisie­rt werde. „Ich kenne den Roman nicht gut, aber die Figurenkon­stellation scheint durch und durch auf rassistisc­hen Einstellun­gen aufgebaut zu sein.“Diesen Rassismus mit Schülerinn­en und Schülern in einer nicht-rassistisc­hen, gewaltfrei­en Sprache zu thematisie­ren, ist nach Einschätzu­ng der Professori­n „gar nicht so einfach und nicht eben mal in einer Fortbildun­g zu lernen“.

Von Schülerinn­en und Schülern mit Diskrimini­erungserfa­hrungen zu erwarten, dass sie distanzier­t und analytisch mit einem rassistisc­hen Text umgehen und dazu die eigenen Verletzung­en beiseitesc­hieben können, sieht Köhler kritisch. „Das nimmt die womöglich aktuellen rassistisc­hen Diskrimini­erungserfa­hrungen dieser Menschen und die daraus resultiere­nden Verletzung­en nicht ernst und privilegie­rt bei der Schullektü­reauswahl die Normalität eines Lebens ohne rassistisc­he Erfahrung, also des Weißseins.“

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Foto: Privat Die Ulmer Deutschleh­rerin Jasmin Blunt.

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