„Fälle sind extrem selten“
Bei Freudenberg wurde ein Kind von Kindern getötet. Der Jugendpsychiater Jörg Fegert über mögliche Ursachen und das Thema Strafmündigkeit.
Nach dem Gewaltverbrechen an der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg ist das Entsetzen groß: Wie kann es sein, dass zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren ein anderes Kind töten? Fragen an den Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert.
Die Tat von Freudenberg ist für viele Menschen, gerade auch Eltern, sehr verstörend. Was kann man ihnen sagen, um das einzuordnen? Jörg Fegert:
Natürlich sind wir alle erschüttert über die Berichte, und Eltern bekommen vielleicht das Gefühl, so etwas könnte auch mit ihrem Kind passieren. Aber da würde ich beruhigen. Solche Fälle sind extrem seltene Ausnahmen. Ich hatte in meiner Laufbahn noch nie mit so einem Fall zu tun. Alles, was wir Kindern als Eltern bei der Erziehung normalerweise mitgeben, sorgt dafür, dass man sich diesbezüglich keine Sorgen machen muss.
Aber sprechen sollte man mit seinen Kindern darüber?
Ja, unbedingt, man sollte das auf keinen Fall totschweigen oder sagen, sowas geht dich noch nichts an. Kinder haben sehr feine Antennen und bekommen sehr genau unser Entsetzen mit, spüren, wie uns das beschäftigt. Daher sollte man darüber reden, auch darüber, wie schlimm es ist, was da passiert ist – aber auch auf eine Ebene von erzieherischen Alltagsthemen kommen, die Kinder auch nachvollziehen können. Zum Beispiel würde ich erklären, warum wir es Kindern verbieten, Messer zu haben. Auch über Mobbing und Gewalt kann man ins Gespräch kommen.
Was können mögliche Ursachen von solchen Taten sein?
Eine Möglichkeit ist eine Tat im Affekt, das heißt, dass man aus einer emotionalen Ausnahmesituation, zum Beispiel nach einer schweren Kränkung, quasi ausrastet. Das kann es auch bei Kindern geben, die in der Impulssteuerung oft noch mehr Probleme haben als Erwachsene. Hier wäre aus der Perspektive von Eltern wichtig, dass Kinder lernen, ihre intensiven Impulse wie Wut und Ärger so zu verarbeiten, dass niemand zu Schaden kommt.
Spielen Gewalterfahrungen in der Erziehung eine Rolle?
Ja, in manchen Fällen sind es Kinder, die selbst traumatisiert sind durch eigene Gewalterfahrungen
– das elterliche Erziehungsvorbild spielt natürlich auch eine Rolle. Kinder, die stärker mit Gewalt aufwachsen, die auch Prügelstrafen oder ähnliches erleben, neigen selbst auch stärker dazu, Gewalt anzuwenden. Hier sind besonders die Väter gefragt, nicht ihre eigenen Gewalterfahrungen an die Kinder weiterzugeben, sondern bewusst den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen.
Wissen Kinder in diesem Alter, was sie da tun?
Komplexe Folgen von Taten abzuschätzen, ist für Kinder oft schwierig – zum Beispiel, dass sie bei einer Brandstiftung nicht sehen, welche gefährliche Kettenreaktion so ein Feuer auslösen kann. Aber was es heißt, einen Menschen zu töten, das weiß man in dem Alter. Das sind solche grundsätzlichen Dinge, die Kinder genau verstehen und wo ein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist. Das lässt sich auch nicht zum Beispiel durch den Einfluss von Medien oder Computerspielen wegdiskutieren. Denn auch Realität und Scheinwelt können Kinder schon unterscheiden. Du sollst nicht töten, das ist jedem Kind in diesem Alter klar.
Unter 14 Jahren gilt man in Deutschland als strafunmündig, das heißt, es gibt keine juristische Verantwortung
der Kinder. Daran gibt es jetzt auch wieder Kritik. Halten Sie das für berechtigt?
Die Debatten, das Alter für die Strafmündigkeit herabzusetzen, halte ich für verfehlt – vor allem mit Blick auf die deutsche Justizlandschaft. 12- oder 13-Jährige in einen Jugendknast zu stecken, würde gar nichts bringen. Dort gibt es viel zu wenige Therapieangebote. Andere Länder wie zum Beispiel die Schweiz haben zwar eine Strafmündigkeit von 11 Jahren – aber dort gibt es dann eben auch spezialisierte Kinderheime, in denen bestimmte Qualitätsstandards für Therapien und Erziehung garantiert werden. Das gibt es bei uns nicht, das müsste man erst von null aufbauen. Allein
die Strafmündigkeit ändern bringt gar nichts, Kinder einfach Wegsperren ist sicher keine Lösung. Es führt auch in der Regel zu nichts Gutem, Gesetze aufgrund von Einzelfällen im politischen Aktionismus zu ändern.
Die Täterinnen haben ihr Leben ja noch vor sich: Ist es möglich, dass Kinder so eine Tat verarbeiten und später ein normales Leben führen?
Eine solche Tat ist eine schwere Belastung, auch für die beiden Kinder, die sie begangen haben. Sie werden diese Tat nie ungeschehen machen können, das wird ihr Leben prägen. Man kann nur versuchen, durch erzieherische Maßnahmen und Psychotherapie daran zu arbeiten, dass ihre Persönlichkeiten so weit reifen, dass sie später im Alltag zurechtkommen – und dass so etwas nie wieder passiert. Ich würde mir wünschen, dass man bei der Therapie auch ganz klar das Delikt in den Fokus nimmt und sehr genau aufarbeitet. Eine solche deliktorientierte Therapie ist in Deutschland leider nicht ganz selbstverständlich.
Prof. Dr. Jörg Fegert (66) ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Ulm, Präsident der Traumastiftung und Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie.