„Meine historische Aufgabe habe ich erfüllt“
Sein Blick auf die Nato ist kritisch. Diese habe viele Fehler gemacht im Zusammenhang mit der Ukraine. Einen Angriffskrieg rechtfertige das aber nicht, sagt der Linken-politiker. Ein Gespräch über die Versäumnisse des Westens und den Versuch, die Spaltung
Er wirkt noch schmaler als vor ein paar Jahren. Auch das Bundestagsbüro war früher größer. Gregor Gysi ist jetzt 75, und viele würden sich wünschen, in diesem Alter so auszusehen wie er. Und das nach Herzinfarkten und Gehirnoperationen, die aber auch schon wieder fast 20 Jahre zurückliegen. Doch im Spätherbst seiner politischen Laufbahn muss der einstige Rockstar der PDS mit ansehen, wie die Nachfolgepartei „Die Linke“von innen zertrümmert wird. Auf einem Bild, das auf einem Schrank steht, sieht man Gysi mit einem Schweißgerät hantieren. Ob er die Risse in der Partei mit einer Schweißnaht versehen kann, ist fraglich.
Die jeweiligen Lager sind schon zum Teil recht unversöhnlich. Aber noch sind wir eine Partei und eine Fraktion.
Die Nato will den Krieg weiterführen. Sie glaubt daran, dass Russland besiegt werden kann.
Herr Gysi, Sie haben sich im November im Bundestag dagegen ausgesprochen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen Zivilisationsbruch zu nennen. Aber wie bezeichnen Sie denn den gezielten Angriff auf ukrainische Zivilisten stattdessen?
Dass die russischen Angriffe auf ukrainische Zivilisten furchtbar und grausam sind, steht außer Frage. Aber der Begriff „Zivilisationsbruch“ist mit der Nazidiktatur und der Shoah verbunden. Der Versuch, aus Putin einen zweiten Hitler zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Ich finde im Übrigen, die Nato und die EU haben in Bezug auf Russland und die Ukraine alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Aber keiner dieser Fehler rechtfertigt diesen Krieg.
Krieg gegen Zivilisten hat es auch in Vietnam, im Irak, in Afghanistan und anderswo gegeben. Alles das Gleiche?
Nein. Es gibt immer verschiedene Ursachen. Allerdings kann die Völkerrechtsverletzung gleich sein. Zum Beispiel war der Krieg gegen Serbien völkerrechtswidrig, was der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gar nicht bestritten hat. Serbien hatte niemanden angegriffen, und einen Beschluss des Un-sicherheitsrates gab es auch nicht.
Sie meinen, wer einmal Völkerrechtsbruch duldet, muss ihn in anderen Fällen ertragen?
Überhaupt nicht. Aber es wird dann schwerer, glaubwürdig zu sein. Was meinen Sie denn, was man in anderen Teilen der Welt über den Krieg gegen die Ukraine denkt? Den findet niemand gut, aber es wird gefragt: War es nicht auch völkerrechtswidrig, die Golan-höhen zu annektieren? Was war mit der Lüge, die zum Irak-krieg führte? Was war mit der Abtrennung des Kosovo? Und geopolitisch wird es nicht dadurch besser, dass der gesamte demokratische Westen sicherheitspolitisch den USA folgen muss.
Und wie sieht man den Krieg in Ihrer Partei?
Nun, der Aggressor Russland wird von allen verurteilt. Nur setzen die einen ein kleines „aber“und die anderen ein großes „Aber“dahinter. Letzteres klingt dann mitunter so, als ob der Krieg eben doch gerechtfertigt wird. Weil Russland von der Nato „eingekreist“wurde zum Beispiel. Es gibt aber keine Rechtfertigung für den russischen Angriff.
War der Krieg zu verhindern?
Wahrscheinlich. Im Dezember 2021 haben Russlands Präsident Putin und Uspräsident Biden telefoniert. Putin wollte über die Ukraine reden, Biden hat das abgelehnt, aber von einer Kriegsgefahr gesprochen. Da hätten die deutsche und die französische Regierung eingreifen müssen.
Sie haben vorgeschlagen, dass der Westen Russland anbietet, die Waffenlieferung an die Ukraine einzustellen, wenn der Kreml im Gegenzug die Kriegshandlung beendet. Nichts spricht dafür, dass Putin zustimmt.
Aber den Versuch wäre es wert. Und es wäre eine Basis, in Verhandlungen zu treten. Und dann wird man vielleicht über doppelte Staatsbürgerschaften in einem autonomen Gebiet reden und über Wahlen im Donbass. Dann könnte Putin das als Erfolg verbuchen und die Ukraine würde kein Territorium verlieren. Zur Krim gibt es schon eine Vereinbarung.
Sind wir uns darin einig, dass es die Ukraine ohne westliche Waffenlieferungen nicht mehr geben würde?
Ich glaube, fast noch schwerwiegender war, dass sich Putin von seinen Geheimdiensten hat einreden lassen, die russische Armee würde in der Ukraine freudig begrüßt.
Sie haben das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer verfasste „Manifest für den Frieden“unterschrieben. Sie wussten doch,
dass Ihre Parteiführung das Papier ablehnt.
Sie war eher unschlüssig. Ich bin aber gerade auch als Vermittler tätig und versuche eine Spaltung der Partei zu verhindern.
Wie bitte? Sie haben unterschrieben, um den Bruch mit Sahra Wagenknecht und ihren Anhängern zu verhindern?
Auch deswegen. Ja. Und für einen Waffenstillstand bin ich sowieso. Allerdings nicht ohne Bedingungen. Wenn Putin auf mein vorgeschlagenes Angebot der Nato nicht einginge, dann müssten weiter Waffen an die Ukraine geliefert werden, wenn auch nicht durch Deutschland. Aber den Test wagt die Nato nicht.
Warum nicht?
Weil sie den Krieg weiterführen will, und weil sie daran glaubt, dass Russland besiegt werden kann.
Sie haben kürzlich gesagt, Sahra Wagenknecht und Sie müssten über ihren jeweiligen Schatten springen. Über welchen Schatten ist denn Frau Wagenknecht gesprungen?
Wir haben ein gemeinsames Papier über die Zukunft der Partei, über den Krieg, aber auch über die Zukunft von Schwedt und die ostdeutschen Länder verfasst. Aber das ist schon wieder von der Zeit etwas überholt worden. Immerhin haben wir beide gezeigt, dass wir kompromissfähig sind.
Es reden trotzdem viele von Spaltung.
Die jeweiligen Lager sind schon zum Teil recht unversöhnlich. Aber noch sind wir eine Partei und eine Fraktion. Und die inhaltlichen Unterschiede machen eine Spaltung nicht zwingend. So groß sind die gar nicht.
Trotzdem ist die Versuchung für Sahra Wagenknecht möglicherweise zu groß. Immer wieder wird ihr prognostiziert, dass eine Partei unter ihrer Führung enormen Wählerzuspruch hätte.
Ich sage es mal so: Wenn bestimmte politische Kreise eine Spaltung wollen, dann werden sie auch mit Umfragen locken. Ich bin sicher, dass bei einer Spaltung beide Teile es spätestens bei der nächsten Bundestagswahl sehr schwer haben werden. Außerdem ist der organisatorische Aufwand für eine Parteigründung enorm. Das ist nichts, womit sich Sahra Wagenknecht normalerweise belastet. Vielleicht geht sie ja wirklich den anderen, den publizistischen Weg.
Auch ohne Spaltung schrumpft die Mitgliederzahl. Prominente wie Fabio de Masi oder Ulrich Schneider sind ausgetreten, Sahra Wagenknecht wird so oder so nicht mehr für die Linken im Bundestag sein.
Die Partei ist in einer schweren, in einer existenziellen Krise. Entscheidend ist, ob sich genügend finden, die mit Leidenschaft für die Partei kämpfen. Und die Änderung des Wahlrechts, die so gestaltet wird, dass man uns schadet, könnte ironischerweise dazu führen, dass viele Wählerinnen und Wähler sagen: so nun aber auch nicht.
Sie meinen die Abschaffung der Grundmandatsklausel.
Genau. Die Idee war, dass Parteien, die in einer bestimmten Region stark verankert sind, wie die CSU in Bayern oder die PDS/DIE Linke in Ostdeutschland, auch dann eine Chance bekommen, wenn sie nicht die Fünf-prozent-hürde nehmen.
Lohnt der Gang vors Verfassungsgericht? Die Grundmandatsklausel steht nicht im Grundgesetz.
Ja. Weil es einen Zusammenhang zwischen der Fünf-prozent-grenze und den Direktmandaten gibt. Es gibt Urteile aus Karlsruhe, die von einer Ergänzung der Hürde durch die Drei-direktmandatsklausel
ausgehen. Das Grundgesetz garantiert nun einmal die Chancengleichheit der Parteien.
Sie haben oft darauf verwiesen, vier Berufe zu haben – Anwalt, Politiker, Moderator und Autor. Mediator wäre vielleicht der Fünfte. (Gysi lacht). In welcher Reihenfolge werden Sie die Berufe aufgeben?
Zuerst fällt der Politikerberuf weg, dann der des Anwalts, Bücher zu schreiben kann ganz schön nerven, aber die Moderationen machen mir außerordentlich Spaß. Ich bin immer neugierig auf andere Leben von Menschen.
Sie sind 75 geworden, leben viel gesünder als früher und dürfen frohgemut in die Zukunft blicken. Gibt es etwas, das Sie unbedingt noch erleben oder machen wollen?
Ja. Bestimmte Reisen. Ich muss unbedingt einmal die Riesenschildkröten sehen. Neuseeland reizt mich sehr. Costa Rica auch. Eine Fahrt durch den Panamakanal wäre auch toll.
Ziehen Sie auch schon Bilanz? Wenn ja, wie fällt die aus?
Durchaus. Aber auch wenn es alle denken, ich verfalle nicht in Trauer wegen des Zustandes meiner Partei. Ich will, dass es ihr besser geht, aber meine historische Aufgabe habe ich, auch nach Ansicht von Politikern anderer Parteien, weitgehend erfüllt. Ich musste die Interessen derjenigen vertreten, die aus der DDR kamen, die Einheit aber nicht wollten. Und auch derjenigen, die die Einheit vielleicht wollten, aber wussten, dass aus ihnen nichts wird. Und dann waren noch die, die dachten, dass aus ihnen etwas wird, sich aber irrten. All diese Menschen galt es, in das vereinte Deutschland mitzunehmen.
Sie sind Berliner. Was man Ihnen normalerweise kaum anhört. Gibt es Gelegenheiten, bei denen Sie berlinern?
Allerdings. Ich habe das selbst nicht gemerkt, aber jemand hat mir gesagt, ich würde im Bundestag und vor Gericht Hochdeutsch reden, aber sobald ich mit Gewerkschaftern spreche, berlinerte ich. Ich mag auch den Berliner Humor. Wenn zum Beispiel eine Frau im Bus fragt, ob als nächstes der Alexanderplatz kommt, und der Fahrer antwortet, „Nee, da müssen Se schon hinfahren“. (lacht)
Gibt es auch Witze über Sie?
Einen kenne ich zumindest. Aus der Zeit, als mir kaum jemand etwas glaubte. Da stehe ich also kurz nach der Wende am Müggelsee und Jesus kommt zu mir. „Ich will Dir helfen“, sagt er. „Wie denn?“, frage ich. „Ich werde dafür sorgen, dass Du ein Wunder vollbringst. Du wirst über den Müggelsee laufen können.“Darauf vollbringe ich das Wunder. Und was sagen die Berlinerinnen und Berliner? „Kieck mal, schwimmen kann er ooch nich.“(lacht)