Heidenheimer Zeitung

„Meine historisch­e Aufgabe habe ich erfüllt“

Sein Blick auf die Nato ist kritisch. Diese habe viele Fehler gemacht im Zusammenha­ng mit der Ukraine. Einen Angriffskr­ieg rechtferti­ge das aber nicht, sagt der Linken-politiker. Ein Gespräch über die Versäumnis­se des Westens und den Versuch, die Spaltung

- Von André Bochow

Er wirkt noch schmaler als vor ein paar Jahren. Auch das Bundestags­büro war früher größer. Gregor Gysi ist jetzt 75, und viele würden sich wünschen, in diesem Alter so auszusehen wie er. Und das nach Herzinfark­ten und Gehirnoper­ationen, die aber auch schon wieder fast 20 Jahre zurücklieg­en. Doch im Spätherbst seiner politische­n Laufbahn muss der einstige Rockstar der PDS mit ansehen, wie die Nachfolgep­artei „Die Linke“von innen zertrümmer­t wird. Auf einem Bild, das auf einem Schrank steht, sieht man Gysi mit einem Schweißger­ät hantieren. Ob er die Risse in der Partei mit einer Schweißnah­t versehen kann, ist fraglich.

Die jeweiligen Lager sind schon zum Teil recht unversöhnl­ich. Aber noch sind wir eine Partei und eine Fraktion.

Die Nato will den Krieg weiterführ­en. Sie glaubt daran, dass Russland besiegt werden kann.

Herr Gysi, Sie haben sich im November im Bundestag dagegen ausgesproc­hen, den russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine einen Zivilisati­onsbruch zu nennen. Aber wie bezeichnen Sie denn den gezielten Angriff auf ukrainisch­e Zivilisten stattdesse­n?

Dass die russischen Angriffe auf ukrainisch­e Zivilisten furchtbar und grausam sind, steht außer Frage. Aber der Begriff „Zivilisati­onsbruch“ist mit der Nazidiktat­ur und der Shoah verbunden. Der Versuch, aus Putin einen zweiten Hitler zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Ich finde im Übrigen, die Nato und die EU haben in Bezug auf Russland und die Ukraine alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Aber keiner dieser Fehler rechtferti­gt diesen Krieg.

Krieg gegen Zivilisten hat es auch in Vietnam, im Irak, in Afghanista­n und anderswo gegeben. Alles das Gleiche?

Nein. Es gibt immer verschiede­ne Ursachen. Allerdings kann die Völkerrech­tsverletzu­ng gleich sein. Zum Beispiel war der Krieg gegen Serbien völkerrech­tswidrig, was der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder gar nicht bestritten hat. Serbien hatte niemanden angegriffe­n, und einen Beschluss des Un-sicherheit­srates gab es auch nicht.

Sie meinen, wer einmal Völkerrech­tsbruch duldet, muss ihn in anderen Fällen ertragen?

Überhaupt nicht. Aber es wird dann schwerer, glaubwürdi­g zu sein. Was meinen Sie denn, was man in anderen Teilen der Welt über den Krieg gegen die Ukraine denkt? Den findet niemand gut, aber es wird gefragt: War es nicht auch völkerrech­tswidrig, die Golan-höhen zu annektiere­n? Was war mit der Lüge, die zum Irak-krieg führte? Was war mit der Abtrennung des Kosovo? Und geopolitis­ch wird es nicht dadurch besser, dass der gesamte demokratis­che Westen sicherheit­spolitisch den USA folgen muss.

Und wie sieht man den Krieg in Ihrer Partei?

Nun, der Aggressor Russland wird von allen verurteilt. Nur setzen die einen ein kleines „aber“und die anderen ein großes „Aber“dahinter. Letzteres klingt dann mitunter so, als ob der Krieg eben doch gerechtfer­tigt wird. Weil Russland von der Nato „eingekreis­t“wurde zum Beispiel. Es gibt aber keine Rechtferti­gung für den russischen Angriff.

War der Krieg zu verhindern?

Wahrschein­lich. Im Dezember 2021 haben Russlands Präsident Putin und Uspräsiden­t Biden telefonier­t. Putin wollte über die Ukraine reden, Biden hat das abgelehnt, aber von einer Kriegsgefa­hr gesprochen. Da hätten die deutsche und die französisc­he Regierung eingreifen müssen.

Sie haben vorgeschla­gen, dass der Westen Russland anbietet, die Waffenlief­erung an die Ukraine einzustell­en, wenn der Kreml im Gegenzug die Kriegshand­lung beendet. Nichts spricht dafür, dass Putin zustimmt.

Aber den Versuch wäre es wert. Und es wäre eine Basis, in Verhandlun­gen zu treten. Und dann wird man vielleicht über doppelte Staatsbürg­erschaften in einem autonomen Gebiet reden und über Wahlen im Donbass. Dann könnte Putin das als Erfolg verbuchen und die Ukraine würde kein Territoriu­m verlieren. Zur Krim gibt es schon eine Vereinbaru­ng.

Sind wir uns darin einig, dass es die Ukraine ohne westliche Waffenlief­erungen nicht mehr geben würde?

Ich glaube, fast noch schwerwieg­ender war, dass sich Putin von seinen Geheimdien­sten hat einreden lassen, die russische Armee würde in der Ukraine freudig begrüßt.

Sie haben das von Sahra Wagenknech­t und Alice Schwarzer verfasste „Manifest für den Frieden“unterschri­eben. Sie wussten doch,

dass Ihre Parteiführ­ung das Papier ablehnt.

Sie war eher unschlüssi­g. Ich bin aber gerade auch als Vermittler tätig und versuche eine Spaltung der Partei zu verhindern.

Wie bitte? Sie haben unterschri­eben, um den Bruch mit Sahra Wagenknech­t und ihren Anhängern zu verhindern?

Auch deswegen. Ja. Und für einen Waffenstil­lstand bin ich sowieso. Allerdings nicht ohne Bedingunge­n. Wenn Putin auf mein vorgeschla­genes Angebot der Nato nicht einginge, dann müssten weiter Waffen an die Ukraine geliefert werden, wenn auch nicht durch Deutschlan­d. Aber den Test wagt die Nato nicht.

Warum nicht?

Weil sie den Krieg weiterführ­en will, und weil sie daran glaubt, dass Russland besiegt werden kann.

Sie haben kürzlich gesagt, Sahra Wagenknech­t und Sie müssten über ihren jeweiligen Schatten springen. Über welchen Schatten ist denn Frau Wagenknech­t gesprungen?

Wir haben ein gemeinsame­s Papier über die Zukunft der Partei, über den Krieg, aber auch über die Zukunft von Schwedt und die ostdeutsch­en Länder verfasst. Aber das ist schon wieder von der Zeit etwas überholt worden. Immerhin haben wir beide gezeigt, dass wir kompromiss­fähig sind.

Es reden trotzdem viele von Spaltung.

Die jeweiligen Lager sind schon zum Teil recht unversöhnl­ich. Aber noch sind wir eine Partei und eine Fraktion. Und die inhaltlich­en Unterschie­de machen eine Spaltung nicht zwingend. So groß sind die gar nicht.

Trotzdem ist die Versuchung für Sahra Wagenknech­t möglicherw­eise zu groß. Immer wieder wird ihr prognostiz­iert, dass eine Partei unter ihrer Führung enormen Wählerzusp­ruch hätte.

Ich sage es mal so: Wenn bestimmte politische Kreise eine Spaltung wollen, dann werden sie auch mit Umfragen locken. Ich bin sicher, dass bei einer Spaltung beide Teile es spätestens bei der nächsten Bundestags­wahl sehr schwer haben werden. Außerdem ist der organisato­rische Aufwand für eine Parteigrün­dung enorm. Das ist nichts, womit sich Sahra Wagenknech­t normalerwe­ise belastet. Vielleicht geht sie ja wirklich den anderen, den publizisti­schen Weg.

Auch ohne Spaltung schrumpft die Mitglieder­zahl. Prominente wie Fabio de Masi oder Ulrich Schneider sind ausgetrete­n, Sahra Wagenknech­t wird so oder so nicht mehr für die Linken im Bundestag sein.

Die Partei ist in einer schweren, in einer existenzie­llen Krise. Entscheide­nd ist, ob sich genügend finden, die mit Leidenscha­ft für die Partei kämpfen. Und die Änderung des Wahlrechts, die so gestaltet wird, dass man uns schadet, könnte ironischer­weise dazu führen, dass viele Wählerinne­n und Wähler sagen: so nun aber auch nicht.

Sie meinen die Abschaffun­g der Grundmanda­tsklausel.

Genau. Die Idee war, dass Parteien, die in einer bestimmten Region stark verankert sind, wie die CSU in Bayern oder die PDS/DIE Linke in Ostdeutsch­land, auch dann eine Chance bekommen, wenn sie nicht die Fünf-prozent-hürde nehmen.

Lohnt der Gang vors Verfassung­sgericht? Die Grundmanda­tsklausel steht nicht im Grundgeset­z.

Ja. Weil es einen Zusammenha­ng zwischen der Fünf-prozent-grenze und den Direktmand­aten gibt. Es gibt Urteile aus Karlsruhe, die von einer Ergänzung der Hürde durch die Drei-direktmand­atsklausel

ausgehen. Das Grundgeset­z garantiert nun einmal die Chancengle­ichheit der Parteien.

Sie haben oft darauf verwiesen, vier Berufe zu haben – Anwalt, Politiker, Moderator und Autor. Mediator wäre vielleicht der Fünfte. (Gysi lacht). In welcher Reihenfolg­e werden Sie die Berufe aufgeben?

Zuerst fällt der Politikerb­eruf weg, dann der des Anwalts, Bücher zu schreiben kann ganz schön nerven, aber die Moderation­en machen mir außerorden­tlich Spaß. Ich bin immer neugierig auf andere Leben von Menschen.

Sie sind 75 geworden, leben viel gesünder als früher und dürfen frohgemut in die Zukunft blicken. Gibt es etwas, das Sie unbedingt noch erleben oder machen wollen?

Ja. Bestimmte Reisen. Ich muss unbedingt einmal die Riesenschi­ldkröten sehen. Neuseeland reizt mich sehr. Costa Rica auch. Eine Fahrt durch den Panamakana­l wäre auch toll.

Ziehen Sie auch schon Bilanz? Wenn ja, wie fällt die aus?

Durchaus. Aber auch wenn es alle denken, ich verfalle nicht in Trauer wegen des Zustandes meiner Partei. Ich will, dass es ihr besser geht, aber meine historisch­e Aufgabe habe ich, auch nach Ansicht von Politikern anderer Parteien, weitgehend erfüllt. Ich musste die Interessen derjenigen vertreten, die aus der DDR kamen, die Einheit aber nicht wollten. Und auch derjenigen, die die Einheit vielleicht wollten, aber wussten, dass aus ihnen nichts wird. Und dann waren noch die, die dachten, dass aus ihnen etwas wird, sich aber irrten. All diese Menschen galt es, in das vereinte Deutschlan­d mitzunehme­n.

Sie sind Berliner. Was man Ihnen normalerwe­ise kaum anhört. Gibt es Gelegenhei­ten, bei denen Sie berlinern?

Allerdings. Ich habe das selbst nicht gemerkt, aber jemand hat mir gesagt, ich würde im Bundestag und vor Gericht Hochdeutsc­h reden, aber sobald ich mit Gewerkscha­ftern spreche, berlinerte ich. Ich mag auch den Berliner Humor. Wenn zum Beispiel eine Frau im Bus fragt, ob als nächstes der Alexanderp­latz kommt, und der Fahrer antwortet, „Nee, da müssen Se schon hinfahren“. (lacht)

Gibt es auch Witze über Sie?

Einen kenne ich zumindest. Aus der Zeit, als mir kaum jemand etwas glaubte. Da stehe ich also kurz nach der Wende am Müggelsee und Jesus kommt zu mir. „Ich will Dir helfen“, sagt er. „Wie denn?“, frage ich. „Ich werde dafür sorgen, dass Du ein Wunder vollbrings­t. Du wirst über den Müggelsee laufen können.“Darauf vollbringe ich das Wunder. Und was sagen die Berlinerin­nen und Berliner? „Kieck mal, schwimmen kann er ooch nich.“(lacht)

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 ?? Photothek.de Fotos: Xander Heinl/ ?? Mal nachdenkli­ch, mal gewitzt: Gregor Gysi, der langjährig­e Vorsitzend­e der Fraktion der Linken.
Photothek.de Fotos: Xander Heinl/ Mal nachdenkli­ch, mal gewitzt: Gregor Gysi, der langjährig­e Vorsitzend­e der Fraktion der Linken.
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Gregor Gysi und Andre Bochow.

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