Im Sog der Müdigkeit
Die Natur lebt auf, die Tage werden länger, es wird endlich wärmer. Ausgerechnet jetzt werden wetterfühlige Menschen träge. Was tun?
Wetterfühlige Menschen kennen das Phänomen: Es ist ein Morgen im März oder April. Man öffnet das Fenster, die Sonne blinzelt einem ins Gesicht, die Vögel zwitschern – und noch bevor man die ersten Krokusse entdeckt hat, verrät der unverkennbare Duft der frischen Luft, dass der Frühling gekommen ist. Jene Zeit im Jahr könnte so schön sein, wären da nicht diese Kopfschmerzen, die Müdigkeit und Gereiztheit und das Gefühl von Abgeschlagenheit sowie die Schwierigkeit, sich zu konzentrieren. Für Menschen, denen diese Symptomatik bekannt ist, ist der Frühling die Jahreszeit, in der alles erwacht – außer sie selbst. Was sie erleben, nennt man „Frühjahrsmüdigkeit“.
Ingo Fietze ist Facharzt für Innere Medizin, Pulmologe, Somnologe und Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums der Charité in Berlin. Mit der Zeitung hätte er lieber über ein anderes Thema gesprochen, „weil es schwierig ist, über ein Phänomen zu sprechen, das weder wissenschaftlich erforscht, noch offiziell als Diagnose anerkannt ist“, sagt der Professor. Tatsächlich sind die konkreten Ursachen
noch nicht wissenschaftlich untersucht. Vermutungen, weshalb der Organismus so auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiert, gibt es aber. Klar ist: Mehrere Faktoren spielen zusammen. Wärmere, aber auch schwankende Temperaturen sowie längere Tage und dadurch plötzlich deutlich mehr Helligkeit nach den dunklen Wintermonaten – das sind Fietze zufolge mögliche Auslöser für die Frühjahrsmüdigkeit. Umstände, die auch an anderen Stellen – etwa auf der Website des Bundesverbands der AOK – als Gründe gesehen werden.
Temperatur und Blutdruck
Bekannt ist, dass sich die Gefäße des menschlichen Körpers bei höheren Temperaturen ausdehnen und der Blutdruck dadurch sinkt. Ein niedriger Blutdruck wirkt wiederum ermüdend und kann Schwindelgefühle hervorrufen. Bis sich das gesamte Herz-kreislauf-system an die neue Wetterlage gewöhnt hat, kann es einige Tage dauern. „Bei kreislaufschwachen Menschen auch Wochen“, sagt Fietze. Was er also rät: „Auf den Blutdruck achten und schauen, dass der nicht in den Keller geht. Sprich, den Kreislauf in Schwung bringen.“Fietze zufolge sind Bewegung an der frischen Luft, Wechselduschen und Saunagänge geeignete Mittel. Außerdem: Wer nicht sowieso schon auf eine vitaminreiche Ernährung achte, solle mit Obst und Gemüse nachhelfen.
Faktor Hormon-chaos
Hinzu kommt, dass die Jahreszeiten und besonders die damit verbundene Sonneneinstrahlung die Hormonproduktion beeinflussen. „Das bedeutet zusätzliche Anstrengung für den Körper“, sagt Fietze. Zum Verständnis: Den menschlichen Schlaf-wach-zyklus bestimmen zwei Hormone:
Melatonin und Serotonin. Bedingt durch die Dunkelheit und weniger Sonnenlicht schüttet der Körper im Winter mehr vom „Schlafhormon“Melatonin aus. Bestimmte Moleküle im Auge reagieren auf Dunkelheit und lösen die erhöhte Umwandlung des „Glückshormons“Serotonin in Melatonin aus, das müde macht.
Wenn der Frühling beginnt und die Tage länger – und heller – werden, befindet sich der Körper aber noch im Melatonin-lastigen Wintermodus und braucht etwas Zeit, um sich anzupassen und mehr munter machendes Serotonin herzustellen. „Eigentlich bräuchte der Körper vermutlich nur eine Woche, in der es durchgehend wärmer und heller ist, um sich umzustellen“, sagt der Schlafmediziner. Die Realität sei gerade im Frühling ja aber oft eine andere: „Speziell im März und April, wo wechselhaftes Wetter besteht, kommt der Körper nie wirklich in einen Modus, sondern die verschiedenen Lichtverhältnisse durch Sonnenschein oder Regentage verwirren den Organismus zusätzlich“, so der Schlafmediziner. Die Folge: Speziell wetterfühlige Menschen müssen dann besonders auf Schlaf, Ernährung und Kreislauf achten.