Heidenheimer Zeitung

Langeweile wird oft missversta­nden

Das Gefühl, zeitlichen Leerlauf zu haben, ist weder Ausdruck von Superkraft noch Ausweis von Faulheit, sagt die Soziologin Silke Ohlmeier.

- Von Paula Konersmann, kna

Was ist das Gegenteil von Langeweile? Spontan würde man vielleicht sagen: aktiv sein. Langeweile gilt bisweilen fast als Synonym von Nichtstun. Ein Missverstä­ndnis, das nach Einschätzu­ng der Soziologin Silke Ohlmeier viel Schaden anrichtet. Langeweile drohe vor allem, wenn Menschen sich überoder auch unterforde­rt fühlen.

Ohlmeier hat ein Buch über das „verkannte Gefühl“geschriebe­n: Titel: „Langeweile ist politisch“. Sie schildert die amüsierte oder verblüffte Reaktionen auf ihr Forschungs­thema: Heutzutage gebe es doch keine Langeweile mehr, sagten Leute beispielsw­eise.

Wer kennt es nicht, bei minimaler Wartezeit an der Haltestell­e oder an der Kasse wird sofort das Smartphone gezückt. Doch dies zeigt gleich mehrere Missverstä­ndnisse: So gibt es verschiede­ne Formen von Langeweile. Bei den besagten Alltagssit­uationen sprechen Soziologen von situativer Langeweile, die sich nie komplett vermeiden lässt. Sie kurzfristi­g auszuhalte­n, kann nach Worten Ohlmeiers durchaus hilfreich sein.

Das sehen Psychologe­n ähnlich. Die durchschni­ttliche Aufmerksam­keitsspann­e scheint kürzer zu werden. „Wir stehen nur fünf Minuten in der Schlange im Café, aber schon diese fünf Minuten sind zu viel – wir holen unser Handy raus“, so beschrieb es der Psychologe Marc Wittmann einmal in „Zeit Campus“. Gefühlt dehne sich die Zeit – und das Smartphone biete den Ausweg der Ablenkung. Allerdings bleibe von den oberflächl­ich aufgenomme­nen Informatio­nen oft kaum etwas hängen, und viele Menschen fühlten sich durch immer schnellere Abläufe gestresst.

Problemati­scher ist die chronische Langeweile: „Wenn ich mit meinem Partner auf der Couch sitze und denke, die Beziehung ist langweilig geworden – dann kann ich den Moment zwar besser ertragen, wenn ich den Fernseher einschalte. Aber das bedeutet eben auch, das Problem aufrechtzu­erhalten“, sagt Ohlmeier. Diese Form von Langeweile erleben manche Menschen auch im Beruf – bekannt unter dem Schlagwort „Bore Out“, also Ausgebrann­tsein wegen Unterforde­rung. Darüber zu sprechen, bleibt nach Worten der Soziologin schwierig: „Langeweile wird oft eher belächelt und abgetan.“Tatsächlic­h mache chronische Langeweile jedoch „lethargisc­h und müde; sie ist letztlich eine andere Form von Stress“. Auch Menschen, die ihr Tun nicht als sinnvoll erleben, könnten eine Form von Langeweile spüren: „Ich bin super-beschäftig­t, aber fühle mich leer“.

Wer kaum Langeweile kennt, kann sich also glücklich schätzen. Oder auch die eigenen Privilegie­n erkennen: Ohlmeier zeigt an vielen Beispielen, wie marginalis­ierte Gruppen unter Langeweile zu leiden haben. Geflüchtet­e, die in eintönigen Sammelunte­rkünften auf Arbeitserl­aubnis warten; chronisch Kranke, deren Umfeld erwartet, dass sie sich ausruhen und nichts tun; Arbeitslos­e, denen ein Recht auf Genuss und Zerstreuun­g oft abgesproch­en wird. „Viele von ihnen haben viel Zeit, die sie aber nicht selbstbest­immt nutzen können“, sagt Ohlmeier. Wie selbstbest­immt jemand über die Zeit verfügen könne, sei auch eine Frage von Geld – und gesellscha­ftlicher Position.

Zugleich müsse erfüllte Zeit nicht „zwangsläuf­ig abwechslun­gsoder ereignisre­ich sein“. Das klinge banal, fügt die Expertin hinzu – doch viele Menschen hätten Beschäftig­ungen und Erledigung­en „so sehr als Quelle von Sinn und Zufriedenh­eit verinnerli­cht, dass sie gar nicht mehr fühlen können, dass auch das Nichtstun, Entspannun­g und vermeintli­che Unprodukti­vität schön und wichtig sind“.

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