„Zu viele Lücken auf der Schiene“
Wie werden wir uns künftig fortbewegen? Die Berliner Verkehrsforscherin zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, zur Anbindung ländlicher Regionen und warum Umsteuern so mühsam ist.
Vor den Büroräumen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin fährt jedes Verkehrsmittel, das die Mobilität in Deutschland hergibt. Im Südosten der Stadt teilen sich Autos, Lkw und Busse eine vierspurige Straße, Radfahrer strampeln an Fußgängern vorbei, die zur S-bahn-station eilen. Hier hat die Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung des DLR, Meike Jipp, ihren Arbeitsort. Womit sie sich beschäftigt, ist genau das: Wie lässt sich Mobilität in der Stadt und auf dem Land gestalten?
Frau Professorin Jipp, wie kommen Sie zur Arbeit?
Mit der S-bahn. Und zur S-bahn-station fahre ich mit dem Fahrrad.
Das ist ja vorbildlich. Haben Sie denn ein Auto?
Wir haben ein Hybrid-fahrzeug geerbt, und daran hängt auch mein Herz. Wenn man zum Baumarkt fährt und etwas zu transportieren hat, ist das schon noch praktisch.
Der ÖPNV ist ja aktuell ein großes Thema. Was hat denn das Neun-euro-ticket für eine umweltfreundliche Mobilität gebracht?
Das Ticket hatte einen positiven und einen negativen Effekt. Wenn wir zurückblicken, dann haben die Menschen vor Corona ungefähr 50 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt. In der Pandemie ist das Mobilitätsverhalten ins Trudeln gekommen. Es gab eine Zickzacklinie bei der Verkehrsmittel-wahl. Im ersten Corona-jahr gewannen das Auto und das Fahrrad zulasten des ÖPNV. Nach einem Corona-jahr verstetigte sich diese Entwicklung, und die Autonutzung lag rund zehn Prozentpunkte oberhalb der Vor-pandemie-marke. Dann kam das Neun-euro-ticket. Dadurch wurde die Statistik auf das Vor-corona-niveau zurückgedreht. Wir beobachteten ein verstärktes, multimodales Verkehrsverhalten, also eine Kombination aus verschiedenen Verkehrsmitteln, privaten wie öffentlichen.
Und was ist der negative Effekt?
Es sind viele Fahrten gemacht worden, die sonst nicht stattgefunden hätten. Von Berlin aus mal eben an die Ostsee. Oder im Süden in die Berge. Und diese Freizeitund Wochenendtouren haben natürlich mehr CO2 verursacht.
Was bedeutet das für das Deutschlandticket?
Positiv ist, dass es sich um ein dauerhaftes Angebot handelt, also nicht auf eine überschaubare Zeit begrenzt ist, die für Fahrten genutzt werden muss, die man später nicht mehr machen kann. Wir beobachten, dass es noch eine gewisse Zurückhaltung bei den Menschen gibt, und erwarten, dass sich der Kauf des Tickets eher in die nächsten Monate verschiebt. Die Zahlen werden unserer Prognose nach steigen, weil das Angebot auch für Berufspendler attraktiv ist.
Wie kann man den ÖPNV noch attraktiver und effektiver machen?
Ich wünsche mir den Ausbau des Angebots
in der Fläche. Wir haben in einer Studie herausgefunden, dass die Einpendelzeit vom Wohnort in das Büro mit dem Auto im Durchschnitt dreimal kürzer ist als mit dem ÖPNV. Die Unterschiede sind auf dem Land deutlich größer als in der Stadt. Da gibt es viel Nachholbedarf.
Man kann den ÖPNV durch Anreize wie das Deutschlandticket stärken oder durch Einschränkungen, wie eine City-maut oder höhere Parkgebühren. Was wirkt besser?
Wenn ich als Psychologin darauf schaue, wirken die negativen Maßnahmen, also Sanktionen oder Verbote, schneller, aber diese Verhaltensveränderung geht mit negativen Einstellungen in der Bevölkerung einher, die sich auch in Protesten äußern können. Bei den positiven Maßnahmen, also materiell günstigen Angeboten, ist es genau umgekehrt: Sie wirken langsamer und werden von positiven Einstellungen begleitet. Im Idealfall führt man also erst positive Maßnahmen ein und mit etwas Abstand die negativen. Zu empfehlen ist eine ausgewogene Mischung aus verschiedenen Instrumenten.
Die Bevölkerung auf dem Land hat andere Bedürfnisse und Interessen als die Stadtbevölkerung und eine andere Infrastruktur. Wie kann man da gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen?
Einpendelzeit vom Wohnort ins Büro ist mit dem Auto im Durchschnitt dreimal kürzer als mit dem ÖPNV. Meike Jipp Verkehrsforscherin
Langfristig brauchen wir auf dem Land automatisierte, elektrische Shuttles, die eine Art Zubringerverkehr darstellen zu den Hauptachsen des öffentlichen Verkehrs. Nur so werden die Menschen auf dem Land ohne Nutzung des eigenen Autos so flexibel wie in der Stadt. Kurzfristig können eine Ausweitung des Car-sharings und der Bürgerbusse helfen.
Wie lässt sich denn die Umstellung von der Straße auf die Schiene für den Güterverkehr beschleunigen?
Auf der langen Strecke gibt es im Schienenverkehr einfach noch zu viele Lücken. Zum Beispiel findet die Strecke Hamburg – Genua häufig deshalb nicht statt, weil irgendwo zwei Kilometer Schiene fehlen. Das führt dazu, dass die komplette Route mit dem Lkw gefahren wird. Für den innerstädtischen Verkehr sehe ich großes Potenzial in immer leistungsfähigeren Lastenrädern, teilweise elektrisch angetrieben, die inzwischen schwere Frachten befördern können. Dazu brauchen Städte mehr und bessere Fahrradwege.
Verkehrsminister Wissing will schneller Straßen bauen und argumentiert mit Berechnungen, nach denen der Güterverkehr auf den Straßen bis zum Jahr 2051 um 54 Prozent ansteigen werde. Ein richtiges Signal?
Uns haben diese Prognosen überrascht. Wir kommen bei unseren Prognosen nicht auf diese Steigerungsrate beim Güterverkehr auf der Straße. Das hat mit den zugrundeliegenden Annahmen zu tun. Es kommt beim Güterverkehr sehr darauf an, welcher Wirtschaftszweig künftig wachsen wird. Ist es der Bankensektor, hat das kaum Effekte auf den Güterverkehr. Natürlich müssen Engpässe auf der Straße aufgelöst werden, aber gleichzeitig muss der Güterverkehr auf der Schiene ausgeweitet werden. Wir brauchen beides.
Erneut weist eine aktuelle Studie aus Schweden nach, dass ein allgemeines Tempolimit nicht nur einen großen Einspareffekt bei Co₂-emissionen hat, sondern auch soziale Kosten spart, etwa durch weniger Herzkreislauf-erkrankungen. Warum fällt es der Politik so schwer, daraus Schlüsse zu ziehen?
Das liegt an einem gefühlten Verlust. Ich vergleiche das gern mit der Einführung der Gurtpflicht, die war damals auch
höchst umstritten. Viele hatten den Eindruck, sie verlieren etwas und haben keinen Einfluss auf diese Entscheidung. Dann reagiert der Mensch mit Reaktanz, also negativ. Genau das beobachten wir auch in der Debatte um ein Tempolimit.
Es ist gerade viel von „Verbotskultur“die Rede, vor allem vonseiten der FDP. Ist das eine zutreffende Beschreibung für Maßnahmen, ohne die kein wirksamer Klimaschutz durchgesetzt werden kann?
Mobilität ist für den Menschen wichtig, um Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass diese Freiheit eingeschränkt wird – und da reicht der gefühlte Eindruck -, reagiert er mit negativen Emotionen. Da kommt es auf eine überzeugende Kommunikationsstrategie an, die auf die Sorgen der Menschen eingeht und ihnen plausibel macht, dass die gefühlte Einschränkung vielleicht gar nicht existiert und einem realen Gewinn für die Allgemeinheit gegenübersteht.
Die Ampel scheitert derzeit an den selbst gesteckten Klimaschutzzielen. Halten Sie den Verzicht auf die Sektorziele für zielführend?
Es wäre dann zielführend, wenn es einen Sektor gäbe, der den Verkehrsbereich ausgleichen könnte. Diesen Sektor sehe ich nicht. Unsere Analysen ergeben, dass die Elektromobilität den größten Hub für den Klimaschutz im Verkehr bringt. Doch der Hochlauf der Elektromobilität ist deutlich langsamer als prognostiziert. Bis 2030 ist das politische Ziel von 15 Millionen zugelassenen E-autos auf deutschen Straßen kaum noch zu erreichen.
Woran liegt das?
Das fängt bei der Ladeinfrastruktur an. Menschen, die noch keine Erfahrung mit E-pkw haben, haben Sorge, ihr Auto nicht geladen zu bekommen. Interessanterweise kippt dieser Effekt, wenn die Menschen eine Zeit lang mit dem E-pkw gefahren sind. Das zweite Problem ist die fehlende Vielfalt der Fahrzeugkonzepte. Die dritte Herausforderung ist die Nichtverfügbarkeit. Wer heute einen E-pkw kaufen will, aber Monate darauf warten muss, greift eher auf ein Auto zurück, das zeitnah verfügbar ist.
Lässt sich durch eine verstärkte Digitalisierung im Verkehrsbereich noch Klimaschutzpotential heben?
Wo die Digitalisierung helfen kann, ist bei der Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs. Also bei der Beantwortung von Fragen wie: Wo ist das Fahrzeug? Wo wird es wann sein? Diese Informationen helfen, um den Menschen den Umstieg zu erleichtern. Chancen bei der Digitalisierung sehe ich auch eher bei der Vermeidung von Wegen. Also, der Weg zum Bürgeramt wird gespart, weil die Sache online erledigt werden kann.
Können intelligente Verkehrsleitsysteme helfen?
Wenn der Verkehr gleichmäßiger fließt, wird weniger CO2 produziert. Wenn die Autos miteinander sprechen, mit Ampeln kommunizieren und automatisiert die Geschwindigkeiten anpassen, kann das der Vermeidung von Emissionen nutzen. Allerdings funktioniert das nur bedingt. Denn wir haben derzeit einen Mischverkehr mit einem großen Teil von Autos ohne diese Techniken. Diese Fahrzeuge stören in dem Fall.
Wir beobachteten verstärkt eine Kombination aus verschiedenen Verkehrsmitteln.
Wann werden wir uns in autonom fahrende Autos setzen und damit zur Konferenz fahren?
Ich würde sagen, das dauert noch. Ich sehe diese Robotaxis erst Mitte der 2030er Jahre auf deutschen Straßen. Allerdings nimmt die Automatisierung zu. Fahrzeuge kommen mit immer mehr Situationen zurecht und können dem Menschen sukzessive mehr abnehmen. Es ist aber nicht so, dass eines Tages der Schalter umgelegt wird und es den Menschen plötzlich gar nicht mehr am Steuer braucht.
Volkswagen zeigt in seiner Wolfsburger Autostadt derzeit Modelle einer künftigen Mobilität, in der individueller Verkehr kaum noch eine Rolle spielt. Sehen Sie die Mobilität der Zukunft auch so?
Ich glaube, dass sich das individuelle Fahren auf Sonderbereiche einschränkt. Das entwickelt sich aber nicht automatisch dahin. Wir nutzen das Auto, weil es unkompliziert, einfach und immer verfügbar ist. Das Auto als Verkehrsmittel hat vieles richtig gemacht. Davon müssen wir in anderen Bereichen lernen und schauen, wie wir geteilte Verkehrsmittel genauso attraktiv und unkompliziert machen. Wenn das gelingt, sehe ich durchaus, dass der individuelle Verkehr abnehmen wird.