Heidenheimer Zeitung

Roman Elena Fischer: Paradise Garden (Folge 69)

- Fortsetzun­g folgt © Diogenes Verlag Zürich

„Hast du eine Sekunde überlegt, was ich will?“, fragte ich. Dann ließ ich meine Großmutter sitzen und ging in mein Zimmer.

Ich verbrachte den restlichen Abend auf meinem Bett. Meine Großmutter kam nur einmal herein. Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm meine Hände. Dann sagte sie: „Ich sehe, wie traurig du bist. Es wird dir guttun, hier rauszukomm­en. Es wird dir guttun, dich um die Tiere zu kümmern. Du wirst neue Freunde finden. Und die ungarische­n Schulen sind gut.“

„Ich habe schon Freunde“, sagte ich.

„Diese Lea?“, fragte meine Großmutter.

Ich nickte.

„Die ist sowieso nicht die Richtige für dich.“

Als meine Großmutter wieder weg war, zog ich mein

Notizheft unter dem

Kopfkissen hervor. Ich Als meine Mutter entschied, schrieb: Meine Großmutter dass ich alt genug kapiert es und kapiert war, um Auto fahren zu

es nicht. Dann blätterte lernen, war ich zwölf. ich zur nächsten Seite. „Deine Beine sind jetzt

Ich schrieb: Die lang genug“, sagte sie.

Geschichte meiner Mutter. Den Theorieunt­erricht

Ich zog die Kiste mit bekam ich auf dem Parkplatz ihren Sachen unter meinem vor unserem Block. Bett hervor und nahm jeden Sie erklärte mir, wo die Bremse Gegenstand noch einmal in die war, wo das Gaspedal und wo die Hand. Dann notierte ich alles, was Kupplung. Sie brachte mir bei, ich wusste. Als ich unten auf der dass Leute, die von rechts kamen, Seite angekommen war, stellte ich immer Vorfahrt hatten, es sei fest, dass ich eine ganze Menge denn, ich war schneller. Sie erklärte Informatio­nen hatte. mir, wie schnell ich auf welcher Straße fahren durfte und in welchen Gang ich dabei schalten musste. Und sie zeigte mir ihre Lieblingsl­ieder zum Autofahren. Es gab Lieder für die Nacht und Lieder für den Tag.

Ich hatte zwei Ortsnamen und ein Foto.

Ich hatte Zeit und ein Auto. Und ich hatte keinen Grund hierzublei­ben.

Manchmal spielten wir Ichsehe-was-was-du-nicht-siehst. Wenn man in einem Auto sitzt, das auf einem Parkplatz steht, dann wird Ich-sehe-was-was-dunicht-siehst aber ziemlich schnell langweilig. Deshalb wandelten wir es ab. Meine Mutter schob eine CD in den Schlitz, klappte den Beifahrers­itz nach hinten und legte die Beine auf das Armaturenb­rett. Setzte die Musik ein, schloss sie die Augen. Manchmal erriet ich, was meine Mutter sah und manchmal nicht.

Sie sah Landstraße­n, die sich durch dunkelgrün­e Wälder schlängelt­en, sie sah Berge und Felsen, die in der Sonne rot glühten, sie sah die Puszta mit ihren Wiesen und Steppen und dem Wind, der alles verwehte.

Ich sah immer das Meer.

Für den praktische­n Teil fuhr meine Mutter mit mir am Sonntagabe­nd auf den Supermarkt­parkplatz.

„Los geht’s“, sagte sie und drückte mir den Autoschlüs­sel in die Hand. Ich fühlte mich überhaupt nicht bereit. Ich trat die Kupplung und drehte den Schlüssel im Zündschlos­s. Der Motor blubberte, und ich krallte meine Finger in den Plüschbezu­g des Lenkrads. Meine Mutter legte ihre Hand sacht auf mein T-shirt, genau an die Stelle, wo mein Herz schlug. „Einatmen. Ausatmen. Du kannst das.“

Ich atmete tief ein und atmete aus. Ich wollte losfahren, ich nahm den Fuß von der Kupplung, und im gleichen Moment hopste das Auto nach vorne, und der Motor erstarb. Ich hatte keine Ahnung, was ich falsch gemacht hatte. „Du hast gesagt, ich kann das!“

„Ja, aber doch nicht beim ersten Mal!“

„Beim wievielten Mal denn?“„Woher soll ich das wissen? Beim 42. Mal vielleicht.“

Ich sagte nichts. Ich fühlte mich reingelegt.

Meine Mutter fasste mich am Kinn und drehte meinen Kopf sanft in ihre Richtung. „Es dauert, bis der Körper gelernt hat, was der Kopf ihm sagt. Aber irgendwann geht es beinah von selbst. Du wirst sehen.“Meine Mutter lächelte.

„Bist du sicher?“, fragte ich. „Ich bin sicher“, sagte sie. Und meine Mutter hatte recht. Beinahe jedenfalls.

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