„Die Menschen brauchen Ruhezeiten“
Esther Lynch, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes, sorgt sich um sinkende Tarifbindung in der EU und plädiert für flexible Arbeitszeitmodelle.
Esther Lynch ist mit Leib und Seele Gewerkschafterin. Auch deswegen bereiten der Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes ETUC die Entwicklungen am europäischen Arbeitsmarkt Sorge.
Frau Lynch, das Thema Streik war zuletzt fast omnipräsent in der deutschen Debatte. Haben Sie die Bahnstreiks verfolgt und aus der Ferne mitgefiebert?
Esther Lynch: Wir unterstützen die Gewerkschaften sehr, wenn sie kollektive Maßnahmen ergreifen, weil wir wissen, dass die Arbeitnehmer sich für etwas Besseres einsetzen. Das ist eine wirklich wichtige Form der Demokratie. Solidarität ist in unserer DNA. Ich weiß, dass Streiks oft Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Aber man muss verstehen, dass Streiks immer das letzte Mittel sind, wenn alles andere versagt hat. Man macht sich Sorgen, wenn es in einem Land keine Streiks gibt. Denn es ist unwahrscheinlich, dass immer alles in Ordnung ist. Es ist daher sehr wichtig, dass das Streikrecht der Arbeitnehmer angemessen geschützt wird. Es ist ein grundlegendes Menschenrecht.
Warum ist es so wichtig, dass in der Eu-mindestlohnrichtlinie nicht nur eine Untergrenze zur Bezahlung vereinbart wurde, sondern auch, dass 80 Prozent Tarifbindung erzielt werden soll?
Nicht nur die Gewerkschaften sorgen sich um Tarifflucht von Unternehmen. Mitgliedstaaten, Wirtschaftswissenschaftler, sogar die Europäische Investitionsbank und die Zentralbank sind über dieses Thema besorgt. Alle sind besorgt über den Anteil, der in die Löhne der Arbeitnehmer und dann durch Konsum in die Realwirtschaft fließt. Wenn es den Arbeitnehmern nicht gelingt, ihren Anteil am Gewinn auszuhandeln, dann ist die gesamte Wirtschaft gefährdet. Und wir sehen, dass sich der Reichtum auf eine immer kleinere Gruppe von Menschen an der Spitze konzentriert. Stattdessen müssen wir zu einer gerechteren Verteilung in der Breite zurückkehren.
Eine der wichtigsten Errungenschaften der Gewerkschaftsseite bei den Bahnverhandlungen war die Vier-tage-woche. Empfehlen Sie diese Idee jetzt anderen Gewerkschaften?
Es ist sehr schwierig, für einen Sektor, ein Land oder eine Region zu sagen: Nun, das sollten alle tun. Es ist immer sinnvoll, Änderungen im Rahmen der öffentlichen Debatte und der Tarifverhandlungen einzuführen, da die Arbeitnehmer in diesem Sektor wissen, welche Arbeitsregelungen für sie am besten sind. Worüber wir uns mehr Sorgen machen, ist mangelnde Flexibilität, die für die Arbeitnehmer funktioniert. Für die Arbeitgeber hingegen gibt es jede Menge Flexibilität. Das müssen wir also ändern.
In Deutschland fordern Politiker mehr Flexibilität bei der täglichen Höchstarbeitszeit, um die Produktivität zu erhöhen und den Wohlstand zu sichern.
Die Arbeitszeitrichtlinie ist eine Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinie und basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass lange Arbeitszeiten das Leben verkürzen. Die Menschen brauchen Ruhezeiten. Diese Kultur langer Arbeitsstunden ist genau die Art von Flexibilität, die wir nicht wollen. Stattdessen wollen wir, dass Arbeiter mehr Entscheidungskraft haben, beispielsweise
um Telearbeit zu machen. Und dass die Arbeitnehmer das Recht haben, nicht erreichbar zu sein. Also dass man nach dem Ende der Arbeitszeit nicht mehr ans Telefon gehen oder seine E-mails abrufen muss und dass der Arbeitgeber einen deswegen nicht schlechter behandelt.
Wie können Staaten stattdessen ihre Produktivität erhalten oder
steigern?
Der Weg, wie wir in Europa produktiver werden können, ist, besser, nicht billiger zu werden. Aber um besser zu werden, muss man in Arbeitnehmer, Unternehmen und in Infrastruktur investieren. Und das ist der Grund, warum uns bestimmte wirtschaftliche Regeln Sorgen machen. Denn die wirtschaftliche Regel lautet: Private Investitionen schrumpfen, wenn staatliche Investitionen schrumpfen. Wir brauchen Führungsstärke von den Politikern, aber auch von den CEO, dass sie sich zusammensetzen und echte Pläne für eine gerechte Transformation entwickeln, damit niemand im Prozess verloren geht. Das ist es, was unsere Produktivität steigern wird: Sicherstellen, dass das Stromnetz funktioniert, sicherstellen, dass Transportmittel zur Verfügung stehen, sicherstellen, dass es ausreichend Kinderbetreuung gibt.