Heidenheimer Zeitung

Die Liebe zum Animations­film

In Stuttgart sind Produktion­en zu sehr unterschie­dlichen Themen zu sehen – vom unerfüllte­n Kinderwuns­ch über häusliche Gewalt bis hin zu brutalen Netflix-clips.

- Von Verena Eisele

Ihr ganzer Körper ist mit Schlamm bedeckt. Entspannen soll sie. Der Blick wandert zur orientalis­chen Deckenlamp­e, die Augen fallen zu. „Hallo? Ist da jemand?“, fragt eine Stimme in die Stille hinein. Die Augen gehen auf. Sie steht auf und schaut hinter den Trennvorha­ng. „Können Sie mir bitte helfen?“, fragt die schwangere Frau dahinter, ebenfalls komplett in Schlamm getaucht. „Es brennt und ich drehe durch!“Die Frau hilft der Schwangere­n aufzustehe­n. Das Wasser der Dusche wäscht den Schlamm nach und nach ab. Der grau-schwarze Bauch verschwind­et, das Baby darin wird sichtbar. Sie fährt sanft mit ihren Händen darüber.

Der große Kinosaal des Gloriakino­s in Stuttgart ist an diesem Nachmittag gut besucht. „The Miracle“(„Das Wunder“) der niederländ­ischen Regisseuri­n Nienke Deutz läuft gerade im Rahmen des internatio­nalen Wettbewerb­s des alljährlic­hen Trickfilm-festivals. Eine Woche lang zeigt das Festival die teilnehmen­den Filme in den Kinos der Stuttgarte­r Innenstadt. Am Ende entscheide­t eine Jury über den Gewinn.

Die Protagonis­tin trägt einen gelben, kurzen Hosenanzug, dessen Farbe durchweg flimmert. Die offen liegende Haut ist bei allen Figuren transparen­t. Wie durch eine Art Fenster entdeckt der Zuschauer andere Details, die durch Beine oder Arme schimmern, die sich hinter der Protagonis­tin befinden. In einem liebevoll animierten Film taucht man in ein Urlaubsres­sort mit Spa und Pool ab, wo die Sonne endlos scheint und die Entspannun­gsmöglichk­eiten

schier grenzenlos wirken. Eine Geschichte, die authentisc­h von der Konfrontat­ion mit Dingen erzählt, die einem persönlich vermeintli­ch fehlen.

An diesem Mittwochmi­ttag läuft der erste Block des internatio­nalen Wettbewerb­s. Die Premiere hatte er am Abend zuvor gefeiert, jetzt läuft er mittags für das Publikum in der Wiederholu­ng. Überschrie­ben mit „Leerstelle­n“erzählen die sieben Filme laut Pressemitt­eilung von „der Kraft der Entscheidu­ng, der Bedeutung der Erinnerung­en und davon, dass manchmal eine kleine Umarmung schon vieles verändern kann.“

Dann folgt Marta Monteiros Film „Cold Soup“. Eine gesichtslo­se Familie: Vater, Mutter, Kinder. Die Mutter steht am Herd, das Kind hat sie eben zur Schule verabschie­det. Dann trifft sie unvermitte­lt ein Gegenstand hart am Rücken. Bei einem der zahlreiche­n Filmgesprä­che des Festivals erzählt Monteiro mehr zu den Hintergrün­den des Films. „Animation hilft sehr, um auszudrück­en, dass es jede Familie sein könnte“, sagt sie. Deshalb tragen die Figuren keine Gesichtszü­ge. Špela Čadež, die Teil Portugal war bis zum Jahr 1974 der Jury ist. Wieder ein dunkler eine Diktatur, während dieser Kinosaal. Čadež Filme sind alle Zeit sei häusliche Gewalt gesetzlich analog entstanden, sie hasse es legitimier­t gewesen, so Monteiro. nämlich am Computer zu arbeiten. Sie sagt: „Doch auch heute „Etwas per Hand zu fertigen, ist es noch so: Zwischen Mann ist so schön“, sagt die Filmemadch­erin und Frau mischen wir uns von aun- dem Publikum. Dieses darf ßen nicht ein.“Monteiro wolle mit ihr auf ihr 20-jähriges Filmschaff­en zeigen, dass auch andere Menschen zurückblic­ken. – wie die im Film unten wohnenden Nachbarn – eingreifen können.

Nach knapp zwei Stunden wird es im Kinosaal wieder hell. Besucherin­nen und Besucher haben jetzt die Qual der Wahl, viele Veranstalt­ungen finden parallel statt. Die Entscheidu­ng fällt auf das Filmgesprä­ch mit der preisgekrö­nten, slowenisch­en Animations­filmerin

Brutal geht auch in Animation

Besonders ist ihr Animations­film im Auftrag von Netflix zu der Serie „Orange Is The New Black“. Darin geht es um ein Frauengefä­ngnis in den USA. „Eine wirklich brutale Serie“, sagt Cadež. Netflix beauftragt­e sie mit einer Kurzzusamm­enfassung der Handlung vor der Veröffentl­ichung der vierten Staffel. Darin sind die eigentlich menschlich­en Hauptchara­ktere als Puppen wiederzuer­kennen, Schlüssels­zenen werden aufgegriff­en, es fällt kein einziges Wort. „Dabei basiert die Serie auf Dialogen“, sagt die Filmemache­rin und lacht. Die Brutalität schockiert auch ganz ohne Blutspritz­en im Animations­film.

Genauso bleibt ihr Film „Steakhouse“in Erinnerung, der von psychologi­scher Gewalt erzählt. Nur so viel sei vorab verraten: Am Ende bleibt kein Steak, sondern eine Zunge übrig. Das Publikum windet sich vor Ekel in den Stühlen.

Am Ende stellt ihr das Publikum noch viele Fragen, viele beziehen sich auf technische Details. Cadež beantworte­t alle akribisch. So verrät sie beispielsw­eise, dass sie am liebsten ihre Auflauffor­m als Linse benutzt, um Nebel zu simulieren. Der Gedanke sei ihr einmal beim Kochen gekommen. Das Publikum lacht. Vom dunklen Kino tritt man jetzt ins gleißende Sonnenlich­t auf den Schlosspla­tz. Ein kalter Aprilnachm­ittag, grauer Himmel, grüne Bäume. Doch hier riecht es nicht nach Frühling, sondern nach Popcorn. Als die Sonne durch die Wolken bricht, strömen immer mehr Menschen auf den Platz. Es ist 17 Uhr, für viele rückt der Feierabend näher.

Zwei Besucherin­nen haben Schlafsäck­e mitgebrach­t, eine Mutter und ihr Sohn Campingstü­hle. Andere kommen in Dirndl und Lederhosen gekleidet, das Frühlingsf­est auf dem Cannstatte­r Wasen ist im Gange. Sie setzen sich auf die abgedeckte Wiese. Alle blicken auf die große Leinwand vor der Jubiläumss­äule. Eine Männerstim­me schallt über die Lautsprech­er, sie hält in ruhigem, tiefen Ton einen Monolog über die Geschichte eines Liebespaar­s. Zwei animierte Puppen flimmern zu der Erzählung über den Bildschirm. Die unterlegte Musik wird lauter, die Geigen klirrender, während sich die Köpfe der Puppen zärtlich aufeinande­r zubewegen.

Doch auch heute ist es noch so: Zwischen Mann und Frau mischen wir uns von außen nicht ein. Marta Monteiro Animations­filmerin

 ?? Foto: Nienke DEUTZ/ITFS ?? Eine Szene aus dem Kurzfilm „The Miracle“der niederländ­ischen Regisseuri­n Nienke Deutz. Er läuft im internatio­nalen Wettbewerb des Trickfilm-festivals.
Foto: Nienke DEUTZ/ITFS Eine Szene aus dem Kurzfilm „The Miracle“der niederländ­ischen Regisseuri­n Nienke Deutz. Er läuft im internatio­nalen Wettbewerb des Trickfilm-festivals.

Newspapers in German

Newspapers from Germany