Heidenheimer Zeitung

„Hilflosigk­eit, Schock und Angst“

Die Filmemache­rin hat 1991 in Hoyerswerd­a miterlebt, wie rechte Horden zuerst Hatz auf Vertragsar­beiter aus Mosambik, dann auch auf Andersdenk­ende machten. Das hat ihr Verhältnis zum neuen deutschen Staat für Jahrzehnte geprägt.

- Von Elisabeth Zoll

Die Vorbereitu­ngen sind schon getroffen: Wenn es wärmer wird, zieht Grit Lemke von Berlin aus weiter Richtung Süden. In der ausgebaute­n Gartenlaub­e in der sächsische­n Kleinstadt Hoyerswerd­a verbringt die Filmemache­rin ihre Sommer. In der früheren sozialisti­schen Musterstad­t ist die 54-Jährige groß geworden, und hier hat sie im Herbst 1991 das Pogrom gegen afrikanisc­he Werksarbei­ter durch einen rechten Mob erlebt. An das Gefühl von Angst und Ohnmacht kann sie sich gut erinnern. Und daran, dass der neue Staat auch Menschen wie sie nicht geschützt hat.

Frau Lemke, es gibt viele Formen, körperlich­e Unversehrt­heit auszuhebel­n. Eine davon ist Gewalt. Sie haben politische Gewalt Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerd­a erlebt, als Rechtsextr­eme die Stadt eine Zeit lang im Griff hatten. Wie sind Ihnen diese Vorgänge in Erinnerung geblieben?

Ich verbinde diese Zeit mit dem Gefühl von Hilflosigk­eit, Schock und Angst. Angst ist auch das Wort, das meine Freunde, die wie ich die Übergriffe erlebt haben, am häufigsten benutzen. Eine solch massive Gewalt kannten wir nicht. Alle waren überforder­t, auch die Polizei. Und die Politik hat lange Zeit nicht reagiert.

Die Gewalt hat zunächst die Vertragsar­beiter und -arbeiterin­nen aus Mosambik und Vietnam getroffen. Diese hatten in der DDR jahrelang im Bergbau gearbeitet. Wodurch wurden sie zur Zielscheib­e?

Die Gewalt kam nicht aus dem Nichts – auch wenn man in Hoyerswerd­a jahrelang behauptet hat, dass sie von außen gekommen wäre. Das ist widerlegt. Fast alle Angreifer kamen aus der Stadt. Gewalt hatte bei uns in einem gewissen Maß nicht so etwas Bedrohlich­es wie man heute denken würde. Wir waren eine Arbeiterst­adt, Bergmannsk­ultur. Man wohnte eng beieinande­r, es wurde viel getrunken. Prügeleien gehörten bei Festen dazu. Auch die Sprache war grob. Auch deshalb hat man nicht gleich mitbekomme­n, als eine Schwelle überschrit­ten war. Die Vertragsar­beiter haben das jedoch gespürt. Sie waren schon immer einem latenten Rassismus ausgesetzt.

Die Mosambikan­er arbeiteten im Braunkohle­bergbau. Warum eskalierte Anfang 1991 die Situation?

In der DDR hatten wir eine „humanistis­che Erziehung“genossen und dachten, diese mache aus uns automatisc­h gute Menschen. Das stimmt so aber nicht. In unserer Vorstellun­g gab es Rassismus und Faschismus nur im Westen. Doch wir haben die Vertragsar­beiter nie auf Augenhöhe behandelt. Keinen interessie­rte, wie sie lebten, dass ihnen die Pässe abgenommen wurden, sie nicht ohne Erlaubnis reisen durften, dass 60 Prozent ihres Lohnes einbehalte­n wurden. Ich bin neben ihrem Wohnheim großgeword­en und wusste das nicht.

In Hoyerswerd­a kam es bei den Pogromen im September 1991 zum Schultersc­hluss zwischen den Angreifern und dem Mob, der sie anfeuerte. Warum?

Die Angreifer waren blutjung, zwischen 16 und 20 Jahren. Und sie waren alle aus der Bahn geworfen. Das galt damals für die ganze Stadt, das ganze Land – Hoyerswerd­a hat das in besonderer Härte getroffen. Die ganze Stadt hing von einem Betrieb ab, dem Gaskombina­t Schwarze Pumpe, und den Tagebauen. Die wurden nach der Wende schnell abgewickel­t. Die Leute wurden damals ins Nichts entlassen. Das Pogrom begann am 17. September, einem Dienstagvo­rmittag. Ein Jahr zuvor wären die Angreifer zu dieser Zeit in der Berufsschu­le gewesen oder im Betrieb. Nun lungerten sie täglich vor der Kaufhalle herum und tranken. Das ist natürlich keine Entschuldi­gung, aber Teil einer Erklärung.

Und die Zuschauer, die die Gewalttäte­r angefeuert haben?

500 bis 1000 haben vor der Unterkunft skandiert. Normale Bürger. Doch was war mit den anderen 70.000? Die hatten Angst, waren hilflos. Eine Zivilgesel­lschaft gab es bei uns nicht. Den Herzschlag der Stadt bestimmten die Schichtbus­se, die nach Pumpe oder in den Tagebau fuhren. Dieser Rhythmus hat uns Sicherheit gegeben und Sinn. Das alles implodiert­e in kürzester Zeit. Und als der äußere Rahmen wegfiel, verrutscht­e auch der innere Kompass.

Sie sagen, es gab keine Zivilgesel­lschaft. . .

In Hoyerswerd­a gab es vor 1989 keine wirkliche, größere Bürgerbewe­gung. Wer alternativ sein wollte, sammelte sich in der Kulturszen­e oder der kleinen Neubaukirc­he, beides war eng verbunden mit der Umweltszen­e und später auch den ersten Hausbesetz­ern. Doch das war noch keine Zivilgesel­lschaft, die beim Ausbruch des Pogroms direkt Widerstand hätte organisier­en können. Auch der Vorschlag westdeutsc­her Gäste, eine Telefonket­te in Gang zu setzen, war schwierig in einer Stadt, in der es kaum Telefone gab.

Gab es während der Ausschreit­ungen auch Helden?

Zwei fallen mir sofort ein. Einer ist ein Freund von mir. Er war nach München gezogen. Als er von den Pogromen erfuhr, kam er nach Hoyerswerd­a, ging an den Nazis vorbei ins Wohnheim, holte einen befreundet­en Vertragsar­beiter raus und brachte ihn nach München. Der Gerettete konnte dort ein neues Leben beginnen. Auch der Superinten­dent Friedhelm Vogel aus Hoyerswerd­a hat sich den Krawallmac­hern entgegenge­stellt. Warum wir ihn nicht unterstütz­ten, ist heute nicht zu erklären.

Nachdem die Vertragsar­beiter Hals über Kopf nach Mosambik ausgefloge­n und mittellos im Kriegsland zurückgela­ssen wurden, suchten die Rechtsextr­emen neue Opfer: Kulturscha­ffende.

Ja, da haben wir dann erlebt, wie es ist, Opfer zu sein. Das war so traumatisc­h, dass wir im Freundeskr­eis 30 Jahre lang nicht darüber geredet haben. Damals fuhr man nur noch mit dem Fahrrad zum Einkaufen, um sich schnell aus dem Staub machen zu können. Dann hieß es: Die Rechten führen schwarze Listen, die sie „abarbeiten“. Die Menschen wurden in ihren Wohnungen überfallen. Einmal sind Nazis auch vor unserem Haus aufmarschi­ert. Das Schlagen der Stiefel auf dem Kopfsteinp­flaster werde ich nie vergessen. Ich hatte die Wohnung schon verbarrika­diert, als die Truppe weiterzog – zu unserem Club. Da bekamen meine Freunde Dresche. Die Polizei half uns nie. Es wurde nicht einmal ermittelt. Dieses Gefühl: Da ist kein Staat, der dir hilft, hat noch lange nachgewirk­t.

Diese Erfahrung fällt zusammen mit der Wende. Wie hat das Ihr Verhältnis zum neuen Staat geprägt?

Das Gefühl, diesem neuen Staat nichts wert zu sein, hat mich lange begleitet. Ich habe sicher 20 Jahre gebraucht, um so etwas wie Zutrauen in Polizei und Justiz zu fassen. Kaum ein Täter ist je verurteilt worden. Die Nazis konnten sich absolut sicher fühlen. Geändert hat sich das erst unter Innenminis­ter Heinz Eggert mit seiner Soko Rex. Sie machten klar, dass Sachsen kein rechtsfrei­er Raum ist.

Sie beschreibe­n ein Staats- und Justizvers­agen. Was hat das mit Ihnen persönlich gemacht?

Nach dem Pogrom habe ich mich 1992 in Sicherheit gebracht und bin nach Leipzig gegangen. Unser Freundeskr­eis ist auseinande­rgestoben. Viele haben sich ins Private zurückgezo­gen. Erst Jahre später konnten die wenigen, die in Hoyerswerd­a geblieben sind, eine neue Kulturfabr­ik gründen. An die Ausschreit­ungen in der Stadt haben jahrelang nur die Nazis erinnert. Bei ihrem Aufmarsch zum 15. Jahrestag haben sich ihnen erstmals Bürger entgegenge­stellt.

Hat die Gewalterfa­hrung den politische­n Diskurs ausgehebel­t?

Für eine gewisse Zeit schon. Das änderte sich vor allem, als das neue Bürgerzent­rum gegründet wurde. Heute würde ich sagen, dieser offene Raum war die richtige Antwort. Dort gedeiht ein buntes Leben. Heute ist Hoyerswerd­a ein Ort mit vielen Bürgerinit­iativen. Die Menschen werden aktiv, wenn sie etwas blöd finden.

Wie kommt dann bei Ihnen der Satz an „Man kann in diesem Land ja gar nichts mehr sagen“?

Absurd. Verstehen kann ich jedoch den Impuls dahinter. Er richtet sich gegen politische Bevormundu­ng. Wir im Osten sind da sensibel. Das freie Denken und Sprechen, das wir in unseren Subkulture­n so gesucht haben, wollen wir uns nicht mehr verbieten lassen.

Das Schlagen der Stiefel auf dem Kopfsteinp­flaster werde ich nie vergessen. Grit Lemke Filmemache­rin

Sie sind zumindest zeitweise nach Hoyerswerd­a zurückgeko­mmen, haben dort auch Ihr Buch „Kinder von Hoy“vorgestell­t. Wie ist es, dort zu leben?

Ich bin mit einem Bein zurückgeke­hrt, das andere ist in Berlin. Wenn ich in meinem Berliner Stadtteil Pankow in den Rewe gehe, bin ich umgeben von Menschen wie ich selbst, akademisch­e Mittelschi­cht. In Hoyerswerd­a treffe ich im Rewe alle Schichten. Hier gibt es keine Blasen, man muss miteinande­r auskommen. Die Stadt ist klein geworden. Etwa die Hälfte der Wohngebäud­e wurde abgerissen. Von den 72.000 Einwohnern zur DDR-ZEIT haben circa 50.000 die Stadt verlassen. Hoyerswerd­a wird heute nicht umsonst „Rollator-city“genannt.

Der Stadtrat ist Afd-dominiert. Wirkt das rechte Erbe nach?

Sicher spielt mit hinein, dass die Ausschreit­ungen 30 Jahre lang nicht aufgearbei­tet wurden. Durch mein Buch „Kinder von Hoy“wurde 2021 vermutlich erstmals mit Blick auf die wirklichen Opfer eine Woche lang über das Thema gesprochen. Danach herrschte jedoch wieder weitgehend Schweigen. Noch immer fehlen Erinnerung­sorte in der Stadt. Doch es gibt eine Bürgerinit­iative, die sich dafür einsetzt. Bei vielen Menschen in der Stadt spüre ich eine fast schon verzweifel­te Unzufriede­nheit mit der Bundespoli­tik. Das hat mit dem Strukturbr­uch in den 1990er Jahren zu tun. Wenn man einmal erlebt hat, dass von einem Tag auf den anderen die Existenzgr­undlage wegbricht, hinterläss­t das eine Urangst. Und diese greift die AFD auf.

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