„Hilflosigkeit, Schock und Angst“
Die Filmemacherin hat 1991 in Hoyerswerda miterlebt, wie rechte Horden zuerst Hatz auf Vertragsarbeiter aus Mosambik, dann auch auf Andersdenkende machten. Das hat ihr Verhältnis zum neuen deutschen Staat für Jahrzehnte geprägt.
Die Vorbereitungen sind schon getroffen: Wenn es wärmer wird, zieht Grit Lemke von Berlin aus weiter Richtung Süden. In der ausgebauten Gartenlaube in der sächsischen Kleinstadt Hoyerswerda verbringt die Filmemacherin ihre Sommer. In der früheren sozialistischen Musterstadt ist die 54-Jährige groß geworden, und hier hat sie im Herbst 1991 das Pogrom gegen afrikanische Werksarbeiter durch einen rechten Mob erlebt. An das Gefühl von Angst und Ohnmacht kann sie sich gut erinnern. Und daran, dass der neue Staat auch Menschen wie sie nicht geschützt hat.
Frau Lemke, es gibt viele Formen, körperliche Unversehrtheit auszuhebeln. Eine davon ist Gewalt. Sie haben politische Gewalt Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda erlebt, als Rechtsextreme die Stadt eine Zeit lang im Griff hatten. Wie sind Ihnen diese Vorgänge in Erinnerung geblieben?
Ich verbinde diese Zeit mit dem Gefühl von Hilflosigkeit, Schock und Angst. Angst ist auch das Wort, das meine Freunde, die wie ich die Übergriffe erlebt haben, am häufigsten benutzen. Eine solch massive Gewalt kannten wir nicht. Alle waren überfordert, auch die Polizei. Und die Politik hat lange Zeit nicht reagiert.
Die Gewalt hat zunächst die Vertragsarbeiter und -arbeiterinnen aus Mosambik und Vietnam getroffen. Diese hatten in der DDR jahrelang im Bergbau gearbeitet. Wodurch wurden sie zur Zielscheibe?
Die Gewalt kam nicht aus dem Nichts – auch wenn man in Hoyerswerda jahrelang behauptet hat, dass sie von außen gekommen wäre. Das ist widerlegt. Fast alle Angreifer kamen aus der Stadt. Gewalt hatte bei uns in einem gewissen Maß nicht so etwas Bedrohliches wie man heute denken würde. Wir waren eine Arbeiterstadt, Bergmannskultur. Man wohnte eng beieinander, es wurde viel getrunken. Prügeleien gehörten bei Festen dazu. Auch die Sprache war grob. Auch deshalb hat man nicht gleich mitbekommen, als eine Schwelle überschritten war. Die Vertragsarbeiter haben das jedoch gespürt. Sie waren schon immer einem latenten Rassismus ausgesetzt.
Die Mosambikaner arbeiteten im Braunkohlebergbau. Warum eskalierte Anfang 1991 die Situation?
In der DDR hatten wir eine „humanistische Erziehung“genossen und dachten, diese mache aus uns automatisch gute Menschen. Das stimmt so aber nicht. In unserer Vorstellung gab es Rassismus und Faschismus nur im Westen. Doch wir haben die Vertragsarbeiter nie auf Augenhöhe behandelt. Keinen interessierte, wie sie lebten, dass ihnen die Pässe abgenommen wurden, sie nicht ohne Erlaubnis reisen durften, dass 60 Prozent ihres Lohnes einbehalten wurden. Ich bin neben ihrem Wohnheim großgeworden und wusste das nicht.
In Hoyerswerda kam es bei den Pogromen im September 1991 zum Schulterschluss zwischen den Angreifern und dem Mob, der sie anfeuerte. Warum?
Die Angreifer waren blutjung, zwischen 16 und 20 Jahren. Und sie waren alle aus der Bahn geworfen. Das galt damals für die ganze Stadt, das ganze Land – Hoyerswerda hat das in besonderer Härte getroffen. Die ganze Stadt hing von einem Betrieb ab, dem Gaskombinat Schwarze Pumpe, und den Tagebauen. Die wurden nach der Wende schnell abgewickelt. Die Leute wurden damals ins Nichts entlassen. Das Pogrom begann am 17. September, einem Dienstagvormittag. Ein Jahr zuvor wären die Angreifer zu dieser Zeit in der Berufsschule gewesen oder im Betrieb. Nun lungerten sie täglich vor der Kaufhalle herum und tranken. Das ist natürlich keine Entschuldigung, aber Teil einer Erklärung.
Und die Zuschauer, die die Gewalttäter angefeuert haben?
500 bis 1000 haben vor der Unterkunft skandiert. Normale Bürger. Doch was war mit den anderen 70.000? Die hatten Angst, waren hilflos. Eine Zivilgesellschaft gab es bei uns nicht. Den Herzschlag der Stadt bestimmten die Schichtbusse, die nach Pumpe oder in den Tagebau fuhren. Dieser Rhythmus hat uns Sicherheit gegeben und Sinn. Das alles implodierte in kürzester Zeit. Und als der äußere Rahmen wegfiel, verrutschte auch der innere Kompass.
Sie sagen, es gab keine Zivilgesellschaft. . .
In Hoyerswerda gab es vor 1989 keine wirkliche, größere Bürgerbewegung. Wer alternativ sein wollte, sammelte sich in der Kulturszene oder der kleinen Neubaukirche, beides war eng verbunden mit der Umweltszene und später auch den ersten Hausbesetzern. Doch das war noch keine Zivilgesellschaft, die beim Ausbruch des Pogroms direkt Widerstand hätte organisieren können. Auch der Vorschlag westdeutscher Gäste, eine Telefonkette in Gang zu setzen, war schwierig in einer Stadt, in der es kaum Telefone gab.
Gab es während der Ausschreitungen auch Helden?
Zwei fallen mir sofort ein. Einer ist ein Freund von mir. Er war nach München gezogen. Als er von den Pogromen erfuhr, kam er nach Hoyerswerda, ging an den Nazis vorbei ins Wohnheim, holte einen befreundeten Vertragsarbeiter raus und brachte ihn nach München. Der Gerettete konnte dort ein neues Leben beginnen. Auch der Superintendent Friedhelm Vogel aus Hoyerswerda hat sich den Krawallmachern entgegengestellt. Warum wir ihn nicht unterstützten, ist heute nicht zu erklären.
Nachdem die Vertragsarbeiter Hals über Kopf nach Mosambik ausgeflogen und mittellos im Kriegsland zurückgelassen wurden, suchten die Rechtsextremen neue Opfer: Kulturschaffende.
Ja, da haben wir dann erlebt, wie es ist, Opfer zu sein. Das war so traumatisch, dass wir im Freundeskreis 30 Jahre lang nicht darüber geredet haben. Damals fuhr man nur noch mit dem Fahrrad zum Einkaufen, um sich schnell aus dem Staub machen zu können. Dann hieß es: Die Rechten führen schwarze Listen, die sie „abarbeiten“. Die Menschen wurden in ihren Wohnungen überfallen. Einmal sind Nazis auch vor unserem Haus aufmarschiert. Das Schlagen der Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster werde ich nie vergessen. Ich hatte die Wohnung schon verbarrikadiert, als die Truppe weiterzog – zu unserem Club. Da bekamen meine Freunde Dresche. Die Polizei half uns nie. Es wurde nicht einmal ermittelt. Dieses Gefühl: Da ist kein Staat, der dir hilft, hat noch lange nachgewirkt.
Diese Erfahrung fällt zusammen mit der Wende. Wie hat das Ihr Verhältnis zum neuen Staat geprägt?
Das Gefühl, diesem neuen Staat nichts wert zu sein, hat mich lange begleitet. Ich habe sicher 20 Jahre gebraucht, um so etwas wie Zutrauen in Polizei und Justiz zu fassen. Kaum ein Täter ist je verurteilt worden. Die Nazis konnten sich absolut sicher fühlen. Geändert hat sich das erst unter Innenminister Heinz Eggert mit seiner Soko Rex. Sie machten klar, dass Sachsen kein rechtsfreier Raum ist.
Sie beschreiben ein Staats- und Justizversagen. Was hat das mit Ihnen persönlich gemacht?
Nach dem Pogrom habe ich mich 1992 in Sicherheit gebracht und bin nach Leipzig gegangen. Unser Freundeskreis ist auseinandergestoben. Viele haben sich ins Private zurückgezogen. Erst Jahre später konnten die wenigen, die in Hoyerswerda geblieben sind, eine neue Kulturfabrik gründen. An die Ausschreitungen in der Stadt haben jahrelang nur die Nazis erinnert. Bei ihrem Aufmarsch zum 15. Jahrestag haben sich ihnen erstmals Bürger entgegengestellt.
Hat die Gewalterfahrung den politischen Diskurs ausgehebelt?
Für eine gewisse Zeit schon. Das änderte sich vor allem, als das neue Bürgerzentrum gegründet wurde. Heute würde ich sagen, dieser offene Raum war die richtige Antwort. Dort gedeiht ein buntes Leben. Heute ist Hoyerswerda ein Ort mit vielen Bürgerinitiativen. Die Menschen werden aktiv, wenn sie etwas blöd finden.
Wie kommt dann bei Ihnen der Satz an „Man kann in diesem Land ja gar nichts mehr sagen“?
Absurd. Verstehen kann ich jedoch den Impuls dahinter. Er richtet sich gegen politische Bevormundung. Wir im Osten sind da sensibel. Das freie Denken und Sprechen, das wir in unseren Subkulturen so gesucht haben, wollen wir uns nicht mehr verbieten lassen.
Das Schlagen der Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster werde ich nie vergessen. Grit Lemke Filmemacherin
Sie sind zumindest zeitweise nach Hoyerswerda zurückgekommen, haben dort auch Ihr Buch „Kinder von Hoy“vorgestellt. Wie ist es, dort zu leben?
Ich bin mit einem Bein zurückgekehrt, das andere ist in Berlin. Wenn ich in meinem Berliner Stadtteil Pankow in den Rewe gehe, bin ich umgeben von Menschen wie ich selbst, akademische Mittelschicht. In Hoyerswerda treffe ich im Rewe alle Schichten. Hier gibt es keine Blasen, man muss miteinander auskommen. Die Stadt ist klein geworden. Etwa die Hälfte der Wohngebäude wurde abgerissen. Von den 72.000 Einwohnern zur DDR-ZEIT haben circa 50.000 die Stadt verlassen. Hoyerswerda wird heute nicht umsonst „Rollator-city“genannt.
Der Stadtrat ist Afd-dominiert. Wirkt das rechte Erbe nach?
Sicher spielt mit hinein, dass die Ausschreitungen 30 Jahre lang nicht aufgearbeitet wurden. Durch mein Buch „Kinder von Hoy“wurde 2021 vermutlich erstmals mit Blick auf die wirklichen Opfer eine Woche lang über das Thema gesprochen. Danach herrschte jedoch wieder weitgehend Schweigen. Noch immer fehlen Erinnerungsorte in der Stadt. Doch es gibt eine Bürgerinitiative, die sich dafür einsetzt. Bei vielen Menschen in der Stadt spüre ich eine fast schon verzweifelte Unzufriedenheit mit der Bundespolitik. Das hat mit dem Strukturbruch in den 1990er Jahren zu tun. Wenn man einmal erlebt hat, dass von einem Tag auf den anderen die Existenzgrundlage wegbricht, hinterlässt das eine Urangst. Und diese greift die AFD auf.