Wut, Frust und Leere
Das Last-minute-fiasko des FC Bayern bei Real Madrid lässt das deutsche Wembley-finale gegen Borussia Dortmund platzen.
Nach dem Frust-aus im Halbfinale der Königsklasse machte sich das Team des FC Bayern um den emotional extrem aufgewühlten Trainer Thomas Tuchel und den mit seinem unentschuldbaren Torwartfehler kämpfenden Manuel Neuer schwer geschlagen auf den Weg zurück. Alles verspielt, alles verloren – nach einem weiteren Münchner Championsleague-drama beim 1:2 (0:0) gegen Real Madrid gibt es am 1. Juni in London keine grandiose deutsche Wembley-neuauflage gegen Borussia Dortmund. Die erste titellose Bayern-saison seit 2012 endet vielmehr in einem tristen Rahmen mit Tuchels Abschiedsspiel am 18. Mai in der Bundesliga bei der TSG Hoffenheim.
„Wir sind einfach sauer, wir haben alles da draußen gelassen“, klagte der Noch-trainer mit feuchten Augen. Vor allem bei seiner Wutrede gegenüber dem Schiedsrichtergespann rang der 50-Jährige um Fassung. „Es war ein richtiger Fight. Wir setzen den Punch und sind fast über die Ziellinie.“Und dann entglitt seiner Mannschaft durch Reals Doppelpack-joker Joselu doch noch der Sieg im nun schon seit Jahren verfluchten Bernabéu. Real überlebt einfach immer.
Bittere Parallelen zu 1999
Es mutete aus Bayern-sicht an wie 1999 im Finale gegen Manchester United mit den Last-minute-toren zum 2:1 der Engländer. Und der am Mittwochabend lange wie ein Titan haltende Neuer musste sich fühlen wie Oliver Kahn nach dem brutalen Fehler im Wm-finale 2002 beim 0:2 der Nationalmannschaft gegen Brasilien. „Ich fühle mich schlecht“, stammelte Neuer. Verrückt: Exvorstandsboss Kahn erlebte die Neuer-tragik live auf der Tribüne mit. Der 8. Mai 2024 markiert eine Zäsur im Bayern-kosmos, in dem nur Sieger und Titel zählen.
Vorstandschef Jan-christian Dreesen war in der Nacht zum Donnerstag aber der Erste, der im Teamhotel mit einer Kampfansage öffentlich nach vorn preschte. Der 56-Jährige erinnerte in seiner Bankettrede an das traumatisch verlorene Königsklassen-finale 2012 in der heimischen Arena gegen den FC Chelsea. Dreesen nestelte einen Zettel aus seinem Sakko und las dann vor: „Thomas Müller hat einen Tag nach dem Finale dahoam in den Mannschafts-chat geschrieben: ,Kopf hoch, Jungs. Das, was gestern passiert ist, tut extrem weh. Aber nächstes Jahr schlagen wir zurück’.“Und genau das wolle er als Boss jetzt auch den Bayern-profis des Jahrgangs 2024 sagen: „Kopf hoch! Ihr habt fantastisch gespielt, ihr könnt euch nichts vorwerfen. Unser Ziel muss sein, dass wir ab morgen den Blick nach vorn richten.“
Dann kam die Ansage, welche die kommenden zwölf Bayernmonate prägen soll: „Wir haben nächstes Jahr das Championsleague-finale zu Hause. Das ist jetzt unser großes Ziel. Das ist letzten Endes das, was wir als unseren Mia san mia-reflex bezeichnen. Das sollte uns leiten“, verkündete Dreesen in Richtung des mit leerem Blick zuhörenden Kapitäns Neuer, des 1:0-Schützen Alphonso Davies und der vielen Edelfans.
Tuchels Schiri-schelte
Zunächst muss die Klubführung um Sportvorstand Max Eberl nach etlichen Trainer-absagen als Erstes einen Nachfolger für Tuchel präsentieren. Der Kader benötigt frische Impulse. Dreesen haderte wie Tuchel, Neuer oder auch Eberl damit, „den großen Traum, eine außergewöhnlich gute Champions League-saison nicht mit dem deutschen Finale in Wembley krönen zu können“. Dortmund gegen Real lautet der Kampf um den Titelgewinn am 1. Juni.
Im Tollhaus Bernabéu hatten die Bayern bis zur unseligen 88. Minute vielen Widerständen standgehalten. Alle vier aufgebotenen Offensivkräfte – Serge Gnabry (nächste Muskelverletzung/ EM-AUS droht), Leroy Sané, Jamal Musiala und Torjäger Harry Kane, bei dem der Rücken zumachte, musste Tuchel auswechseln. Und dann war da auch noch ein Abseitspfiff, der die Münchner kollektiv empörte. Das 2:2 von Matthijs de Ligt in der 13. Minute der Nachspielzeit zählte nicht. Tuchel konnte seine Wut auf das Schiedsrichtergespann um Szymon Marciniak, 43, kaum zügeln. Der Pole hatte zu früh gepfiffen, als der Ball in Reals Strafraum flog und der Assistent an der Seitenlinie die Fahne hochriss. So konnte nach de Ligts Schuss ins Tor die Szene nicht mehr per Videobeweis überprüft werden. Marciniak entschuldigte sich nach Abpfiff, wie de Ligt aufgebracht berichtete. „Natürlich nehmen wir die Entschuldigung als Sportsmänner an“, sagte Tuchel: „Aber es ist ein Halbfinale. Es ist nicht der Moment für Entschuldigungen, ehrlich nicht.“
Dann redete sich der um ein Bayern-happy-end gebrachte Coach in Rage. „Alle müssen ans Limit. Alle müssen leiden. Alle müssen fehlerfrei spielen. Da müssen halt die Schiedsrichter auf diesem Niveau das auch tun“, sagte er mit fast überschlagender Stimme. Bei jedem seiner Zornessätze haute er mit der Hand aufs Podium.
Der große Verlierer des Abends war aber Manuel Neuer mit seinem Fehler vor dem 1:1. Den Schuss von Real-angreifer Vinicius Junior schätzte er falsch ein und ließ ihn nach vorn auf „Joker“Joselu abprallen. Und der in Stuttgart geborene 34-Jährige, der erst in der 81. Minute eingewechsel wurde, war es, der in der Nachspielzeit die Madrilenen um Toni Kroos und Antonio Rüdiger in Endspiel schoss, wo nun das BVB-TEAM von Trainer Edin Terzic wartet.