Tag und Nacht an ihrer Seite
„Digitaler Zwilling“und superschlauer Assistent: Ki-bots werden unser Leben tief durchdringen und uns im Alltag eng begleiten. Wir haben mit Zukunftsforscher Kai Gondlach ein Szenario entworfen, wie ein normaler Tag im Jahr 2050 aussehen könnte.
Morgens: 7.23 Uhr
Als Emilia am 11. Mai 2050 die Augen aufschlägt, ist es etwas später als gewohnt, doch sie fühlt sich schlagartig fit und energiegeladen. Die smarten Rollläden im Schlafzimmer sind selbstständig nach oben gefahren und lassen Tageslicht herein, leise Musik hat sie sanft aufwachen lassen – beides genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Sensoren, die Emilias Schlaf überwachen, erkennen, dass der Biorhythmus optimal zum Aufstehen ist. Vage erinnert sich die 26-Jährige daran, dass sie um 2 Uhr durch laute Polizei-sirenen geweckt worden war – um die gestörte Nachtruhe auszugleichen, hat ihr Ki-assistent sie etwas später geweckt und ihren Arzttermin um zwei Wochen verschoben. Die restlichen Termine des Tages schafft sie jetzt alle problemlos, dafür hat ihr „digitaler Kizwilling“, der sie Tag und Nacht begleitet, ihren Kalender und ihre gesamte Kommunikation verwaltet und alle ihre Daten kennt, gesorgt.
Die smarte Toilette im Badezimmer analysiert routinemäßig Emilias Morgenurin. Am Waschbecken setzt sie sich ihre smarten Kontaktlinsen ein, die Informationen und Nachrichten direkt auf ihren Augen anzeigen, aber auch weitere Vitalwerte wie Blutzucker, Blutdruck und Puls erfassen. Eine Nachricht blinkt direkt in ihrem Gesichtsfeld auf: In deinem Urin wurden leicht erhöhte Entzündungswerte gemessen. Die Daten wurden an deinen Hausarzt geschickt, der das mit seiner Gesundheits-ki auswertet.
Frühstück: 7.34 Uhr
Auf dem Weg in die Küche poppen auf Emilias smarten Linsen massenhaft Pushmitteilungen auf: neueste Nachrichten, aber auch eine Menge Werbung. „Ne, heute nicht“, sagt die 26-Jährige. „Darauf habe ich jetzt wirklich keine Lust.“Das Deaktivieren der Werbung heute kostet 2,99 Euro, zeigt der digitale Assistent an. Oder willst du deine Gesundheitsdaten für ein Forschungsprojekt der Maxplanck-gesellschaft freischalten? Dann wärst du drei Monate werbefrei. Emilia entscheidet sich für den Tagespass und hat für heute ihre Ruhe.
In der Küche läuft bereits der Kaffee automatisch in die Tasse, er ist koffeinfrei, weil die KI erhöhten Puls festgestellt hat. Emilia drückt die Taste ihres Müslimixers, der eine Mischung ausspuckt, die auf ihre aktuellen Körperdaten angepasst ist: mehr Goji-beeren und Walnüsse wegen der Entzündungswerte, weniger Haferflocken, weil ihr Kohlenhydrat-speicher vom Abendessen noch voll ist.
Am Frühstückstisch isst Emilia ihr Müsli mit Mandelmilch, da taucht eine Videobotschaft ihres besten Freundes Karl in ihrem Gesichtsfeld auf: Er ist in der Stadt und fragt, ob sie am Nachmittag Zeit für ein Treffen hat. Ihr „Zwilling“schließt sich mit Karls kurz, die zwei KIS vereinbaren binnen Sekunden einen Treffpunkt, der für beide passt. „Super“, sagt Emilia. Sie freut sich.
Weg zur Arbeit: 8.11 Uhr
Heute muss Emilia, die im Speckgürtel Frankfurts wohnt, zur Arbeit einpendeln. Vor ihrer Tür fährt gerade ein autonomes Shuttle vorbei, das ihr Ki-assistent gebucht hat. Spontan entscheidet sich Emilia um, schickt das Shuttle mit einer Geste weiter und steigt auf ein E-leihfahrrad. Da sie einen smarten Ring am Finger trägt, erkennt der Lenker automatisch ihr Nutzerprofil und entsperrt das Rad, der Sattel stellt sich auf ihre Höhe ein. Auf ihrer Strecke hat Emilia ziemlich freie Fahrt: Außer autonomen Shuttles, die lautlos Tempo 30 fahren, sind fast keine Autos und Lkw unterwegs, die Radwege sind breit und führen durch Grünflächen und Parks, wo vor Jahren noch Straßenzüge verliefen. An einer Tramstation stellt sie das Rad ab und steigt in die Straßenbahn – die Bezahlung läuft dank des smarten Rings automatisch. Emilia hat sowieso ein Deutschlandticket, das 2023, ziemlich genau ein Jahr vor ihrer Geburt, eingeführt wurde.
Arbeit: 9:00 Uhr
Emilia hat einen Raum in einem Co-working-space gebucht. Sie ist Uni-dozentin am Lehrstuhl für internationales Nachhaltigkeits-management – viele klassische Bürojobs sind längst ausgestorben, doch Bildung ist auch im Jahr 2050 stark gefragt. Heute steht ein virtuelles Meeting mit Forscherinnen und Forschern aus Singapur an – es geht um neue Ki-sensoren, die im Küstenschutz eingesetzt werden, um die drastisch gestiegenen Meeresspiegel zu beherrschen. Für die Teilnehmer wirkt es dank Kontaktlinsen und Vr-technologie, als stünden sie in einem Raum und arbeiteten an virtuellen Whiteboards und Hologrammen. Emilia spricht Deutsch, die Kolleginnen und Kollegen aus Singapur Mandarin – Ki-bots dolmetschen das Gespräch perfekt und nahezu in Echtzeit. Das Meeting ist dank Ki-vorbereitung kurz, knackig und auf das Wesentliche beschränkt.
Mittagessen: 11:09 Uhr
Nach einem weiteren Termin wird Emilia ans Mittagessen erinnert, kurz nach 11 Uhr sei heute laut ihren Vitaldaten die optimale Zeit dafür. Im Restaurant werden ihr basierend auf ihren Vorlieben und den Nährstoffen, die ihr Körper braucht, Vorschläge für Gerichte eingeblendet. Emilia isst ein Steak mit Kartoffeln und Salat – alle Zutaten kommen aus der Stadt, das synthetische Fleisch aus einem
Zell-reaktor ein paar Häuser weiter. Nach dem Mittagessen legt sich Emilia zum Powernap in eine Schlafkapsel.
Nachmittag: 13:22 Uhr
Nun steht ein hybrides Seminar für Studentinnen und Studenten an. Auf dem Flur trifft Emilia eine ältere Professorin. Man sieht es ihr nicht an, aber Emilia weiß, dass sie im Februar ihren 120. Geburtstag gefeiert hat. Nicht ungewöhnlich: Viele Senioren hatten schon Dutzende Male Krebs, was aber stets von Medizin-ki-bots so früh erkannt wird, dass Tumore gar nicht entstehen. Auch Schlaganfälle und Herzinfarkte werden so routinemäßig verhindert. In Emilias Seminar wird nur zugelassen, wer bei Lern-bots nachgewiesen hat, dass er sich den Stoff angeeignet und verstanden hat. Im Kurs geht es nur noch um Problemlösung und Anwendung des Wissens. Danach ist Feierabend: 40-Stunden-wochen sind schon lange kein Thema mehr.
Der älteren Kollegin sieht man es nicht an, aber Emilia weiß: Sie hat kürzlich ihren 120. Geburtstag gefeiert.
Abend: 18:52 Uhr
Am Abend hat Emilia noch Lust auf ein Date – eine Person, die zu ihr passt, asiatische Küche mag und ihren Musikgeschmack teilt. Nach fünf Minuten meldet ihre KI: Du hast ein Date mit Charlie, hier ist euer Treffpunkt und die Restaurant-buchung. Die beiden verstehen sich gut und gehen noch ein Eis essen – im Mai 2050 hat es auch abends um die 30 Grad. Spontan beschließen Emilia und Charlie, den neuesten Blockbuster von Christopher Nolan im Kino zu sehen. Danach diskutieren sie über den Film – und schimpfen beide über das deprimierende Ende. Sie gehen zu Emilia nach Hause, lassen sich von Netflix ein Ki-generiertes Ende nach ihren Wünschen bauen und schauen den Film ab der Hälfte noch einmal. Die Variante mit Happy End gefällt beiden viel besser.