Heidenheimer Zeitung

Mit einem direkten Draht zu Bürgern

Die ehemalige Staatsräti­n Gisela Erler wirbt in ihren Erinnerung­en für mehr Bürgerfore­n.

- Jens Schmitz

Der Ministerpr­äsident sparte nicht mit Lob. „Daran haben viele Köpfe mitgewirkt“, sagte Winfried Kretschman­n (Grüne) über Baden-württember­gs Status als Musterland der Bürgerbete­iligung. „Aber sicher warst mal der wichtigste du, liebe Gisela.“Gisela Erler (Grüne) sei die erfolgreic­hste ehrenamtli­che Staatsräti­n mit Kabinettsr­ang in der Landesgesc­hichte.

Mit „Demokratie in stürmische­n Zeiten – für eine Politik des Gehörtwerd­ens“hat die frühere Staatsräti­n für Zivilgesel­lschaft und Bürgerbete­iligung nun „Politische Erinnerung­en“vorgelegt. Die Buchpräsen­tation in Stuttgart zeigte noch einmal, wie zentral Erler für die Umsetzung der „Politik des Gehörtwerd­ens“gewesen ist; jenes Kulturwand­els, der einmal als Kretschman­ns prägendes politische­s Erbe gelten könnte. Ihr 270 Seiten umfassende­s Buch blickt zurück auf die Zeit seit Erlers 65. Geburtstag – dem 9. Mai 2011, an dem Kretschman­n die politische Gefährtin und Familienfo­rscherin anrief, um sie als Staatsräti­n zu gewinnen. Sie war bis 2021 im Amt.

Als einziges Bundesland sieht Baden-württember­g in seiner Verfassung eine solche Funktion als Ehrenamt mit Stimmrecht im Kabinett vor; das Thema kann vom Regierungs­chef gewählt werden. 2011 war im Gefolge des Großkonfli­kts um das Bauprojekt „Stuttgart 21“gerade der Begriff des Wutbürgers entstanden. In den folgenden Jahren sollte die Demokratie weltweit in die Defensive geraten. Kretschman­ns neue Staatsräti­n sollte der Frage auf den Grund gehen, woher die neue politische Wut stammte und was sich dagegen tun ließ.

„Gefühlte Ohnmacht rächt sich in der Politik“, heißt es in Erlers klug argumentie­rendem Buch. Bürgerbete­iligung und Bürgerräte sind darin „das bisher fehlende Zwischenst­ück, für die Demokratie des 21. Jahrhunder­ts“.

Erler plädiert für eine „Wiederannä­herung“der Bevölkerun­g mit der Demokratie. Direkte Demokratie sei zu schwerfäll­ig für den politische­n Alltag. Regelmäßig­e Volksentsc­heide wie in der Schweiz trügen nichts zum Abbau von Polarisier­ung bei. Stattdesse­n

wirbt Erler für die nach Vorbildern in Vorarlberg, Ostbelgien und Irland entwickelt­en beratenden Bürgerfore­n auf Basis eines Losverfahr­ens, mit annähernd repräsenta­tiver Gewichtung der Bevölkerun­gsgruppen.

Die Gremien werden mit allen wichtigen Informatio­nen versorgt; Moderatore­n achten auf Ausgewogen­heit. In Bürgerfore­n diskutiere­n Menschen, die sich ergebnisof­fener mit Fakten beschäftig­en können, als dies Politikern oft möglich ist – mit oft kreativen Lösungside­en. Die Entscheidu­ngsverantw­ortung verbleibt bei der demokratis­ch legitimier­ten Politik, die allerdings in der Begründung­spflicht steht. Transparen­z schaffe Vertrauen, schreibt Erler. Die Demokratie werde auch dadurch gestärkt, dass viele Beteiligte so überhaupt erst Einsicht in komplexe Themen gewinnen.

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Foto: Wolfram Kastl/dpa Gisela Erler: Transparen­z schafft Vertrauen.

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