Die Königs auf dem Schloss
Wenn sich Schatz auf Spaß reimt: Mit Künstlicher Intelligenz lässt sich schnell mal ein Gedicht fürs Familientreffen generieren, ganz große Kunst aber kommt dabei nicht heraus. Gedanken über die Lyrik aus der Maschine.
Seit er aufrecht durch die Welt geht, nutzt der Mensch sein Gehirn, um sich das Leben bequemer zu machen. Zum Beispiel mit Fahrzeugen und Maschinen. Erfindungsreich, diese Spezies. Aber seinen Verstand gebraucht der Mensch leider auch, um Macht auszuüben, um andere zu beherrschen, mit immer genialeren Waffen. Doch jetzt arbeitet er mit seiner ganzen Fantasie daran, dass er sein Gehirn selbst ersetzen kann. Das ist irgendwie neu. Ach, was einem alles so durch den Kopf geht, wenn man vor einer Bücherwand steht.
Künstliche Intelligenz (KI)? Es gibt ja noch die Gefühle, die menschlichen. Und diese drückt man gerne in Versen aus, in Gedichten. Oder man liest solche Lyrik, denn nicht jeder ist Goethe oder Grönemeyer. Und fühlt sich dann bestätigt, auf emotionale Reisen mitgenommen, an die eigene Existenz erinnert. Oder müssen Gefühle jetzt auch nicht mehr echt sein? In virtuellen Welten weiß man das schon lange nicht mehr so genau.
Naja, der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bastelte bereits im Jahr 2000 einen „Landsberger Poesieautomaten“und sagte damals: „Wer nicht besser dichten kann als die Maschine, der täte besser daran, es bleiben zu lassen.“Da ist natürlich etwas dran, es ist aber auch ein anmaßender, großkünstlerischer Spott. Enzensbergers Installation jedenfalls ist inspiriert von den Anzeigetafeln in Bahnhöfen oder auf Flugplätzen und funktioniert per Knopfdruck. Per Zufallsprinzip werden die eingespeisten Wörter und Textbausteine miteinander kombiniert: zu immer neuen Inhalten, zu sechszeiliger Lyrik. In programmierter Austauschbarkeit der einzelnen Satzglieder sind 10 hoch 36 mögliche Texte generierbar.
Okay, die Ergebnisse sind krude bis gaga, und das hat jetzt auch nichts zu tun mit poetischen Gefühlen, der „Poesieautomat“ist ein Wortspielzeug. Und ironisiert nicht zuletzt den menschlichen Fortschrittsglauben. Wer in der Vergangenheit stöbert, findet übrigens einen Zeitungsartikel von 1777, in dem vermeldet wird, dass in Göttingen die Erfindung einer windgetriebenen „poetischen Handmühle“gelungen sei, „durch welche man Oden von allen Gattungen ganz mechanisch verfertigen könne“.
Alles schon mal dagewesen. Aber jetzt zur Sache, keiner will hier die KI verteufeln, im Gegenteil. Die Not ist groß, es steht ein Fest an: ein Treffen der weit verzweigten Familie. Es wird getafelt, und, ja, man kennt das, es wäre schön, wenn eine Begrüßungsansprache die Gesellschaft unterhielte: gedichtet, gereimt, mit Witz. Lyrik also für den Hausgebrauch. Taufen, Geburtstage, Hochzeiten, Beerdigungen – kann das jetzt nicht mal die KI übernehmen?
Früher ging der Ratlose in die Stadtbücherei. Wo sich noch immer, im untersten Regal, ein schon etwas abgenutztes Exemplar mit dem Titel „Die schönsten Festgedichte“findet. Es stammt ungefähr aus der digitalen Steinzeit, aus dem Jahr 2003, verlegt von Egmont Schneider. Abgedruckt sind nicht nur lahme Zeilen, sondern super Tipps, wie eine Rede gelingt. Daran sollte sich die KI ein Beispiel nehmen. Wer hört zu? Was will ich sagen? Wie spanne ich den roten Faden?
Zunächst solle man sich alle Gedanken aufschreiben, die einem zum Thema einfallen. Und es komme darauf an, eine logische Verbindung der Stichworte herzustellen. Dann macht sich dieser Ratgeber aber auch noch Sorgen um die Publikumsreaktion: „Wo ist mit Störungen durch negative (Pfiffe, Buhrufe) oder positive (Beifall) Äußerungen zu rechnen?“Hilfe, es soll um keinen Parteitag, sondern um ein Familientreffen gehen. Keine Agitation, sondern Lyrik. Nichts Peinliches, nichts Ambitioniertes.
Also jetzt mal ein Versuch, ganz anonym. Was sollte alles eingespeist werden in den Vortrag? Ein herzliches Willkommen an alle; der Familienname (König); das älteste Mitglied (Fritz, 87); das jüngste (Mary, 3); die am weitesten angereiste Cousine (Eva, 962 Kilometer); auf schöne Tage; und dass wir jetzt mal alle das Glas erheben mit einem Schnaps, einem grünen Lauterbacher Tropfen.
Wer jetzt in Sekunden, völlig mühelos und gratis dichtet, das ist der Ki-chatbot, Modell GPT-3.5 Turbo. „Hallo Mensch“, meldet sich der Lyriker aus dem Internet, und unsere Arbeitsaufgabe lautet: „Schreibe ein Gedicht, gereimt.“Und das mit dem oben ausgeführten Inhalt. Das ist das Ergebnis: „In einem Schloss, so prächtig und fein . . .“Nebenstehend, im Extra-kasten, ist das ganze Gedicht zu lesen.
Hey, woher will der Ki-schiller eigentlich wissen, dass wir uns auf einem Schloss treffen und nicht im Vereinslokal vom Liederkranz Frohsinn? Es hat doch niemand behauptet, dass in einer noblen Location gefeiert wird? Aber wenn man König heißt, sagt sich die KI, kann es nur standesgemäß ein Schloss sein. Wenn wir jetzt Zimmermann hießen, wären wir dann auf dem Dach einer Baustelle zusammen?
Und was, offenbar dem Reim geschuldet, etwas bitter aufstößt: dass es die „Pflicht“der Familie sei, sich zu versammeln. Wobei, vielleicht ist ja dem einen oder anderen Festmuffel tatsächlich intern gedroht worden, pünktlich zu erscheinen. Andererseits sind wir furchtbar Stolz auf unsere Sippe: „Familie König, ein wahrer Schatz.“Danke für diese
Einschätzung, lieber GPT-3.5 Turbo. Auch wenn sich „Spaß“auf „Schatz“wirklich gar nicht reimt. Höchstens auf „Schaaatz“. Aber der Vortragende hat ja auch noch etwas zu leisten.
Zufrieden? Applausverdächtig? Man könnte jetzt natürlich auch einfach noch ein wirkliches, gewissermaßen analoges Gedicht aufsagen, ein schlaues wie witziges, zum Beispiel vor dem Dessert oder dem Kaffeetrinken. Und zwar von jemandem, der, lieber Herr Enzensberger, besser dichten kann als eine Maschine.
Der Ki-schiller erhebt das Glas und hält eine feierliche Rede in drei Strophen.
Der echte Gernhardt
Es gibt unzählige Lyrik-sammlungen, sie heißen „Jahrhundertgedächtnis“oder „Gedichte fürs Gedächtnis“, was in Kizeiten anachronistisch anmutet, aber eines der lohnendsten Bücher ist „Der ewige Brunnen“. Die Neuausgabe im Verlag C.H. Beck versammelt deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten, in diverse Kapitel sortiert. Unter „Essen und Trinken“findet sich eines von Robert Gernhardt, dem Schriftsteller, Zeichner und Satiriker: „Ein Erlebnis Kants.“Passt doch, denn gerade feierte man den 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant, und wo’s doch um den Verstand geht, kann man damit auch ein Familienfest füttern und als Redner mit Bildung glänzen. Hier nun der echte Gernhardt:
„Eines Tages geschah es Kant,/ daß er keine Worte fand.// Stundenlang hielt er den Mund,/ und er schwieg – nicht ohne Grund.// Ihm fiel absolut nichts ein./drum ließ er das Sprechen sein.// Erst als man zum Essen rief,/ wurd‘ er wieder kreativ,// und er sprach die schönen Worte:/ ,Gibt es hinterher noch Torte?‘“
Also: guten Appetit! Und man fragt sich jetzt, ob auch die KI zuweilen Hunger auf Süßes verspürt.