Heidenheimer Zeitung

Kindheit in der Künstler-bohème

Er hat mit Jane Birkin den Song „Je t’aime – moi non plus“aufgenomme­n und damit Ende der 1960er-jahre einen großen Skandal ausgelöst. Doch Serge Gainsbourg war mehr als nur Komponist und Sänger, wie ein sehr persönlich­er Rundgang durch sein Wohnhaus in de

- Martin Reuse

Die Fassade wirkt wie ein buntes, wild zusammenge­stückeltes Graffiti-kunstwerk aus Gesichtern, Schriftzüg­en, Herzen und Farbklecks­en. Eine Hommage an den vielseitig begabten Musiker und Künstler Serge Gainsbourg, dessen Tochter Charlotte im vergangene­n September, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod, die Privaträum­e für die Öffentlich­keit zugänglich gemacht hat und sehr persönlich­e, fasziniere­nde Einblicke in das Leben ihres Vaters erlaubt.

Es ist ein intimer Rundgang, zu dem Charlotte die Besucher via Audioguide – wahlweise auf Französisc­h oder Englisch – einlädt. Jeweils nur zwei Personen werden im Abstand von wenigen Minuten eingelasse­n und im Lauf einer halben Stunde durch das Haus geführt, so dass man sich beim Blick in die einzelnen Zimmer fast wie ein privater Gast fühlt, dem hier ein paar Geheimniss­e verraten werden.

Besuch in der Kindheit

Charlotte Gainsbourg, die Tochter der im vergangene­n Juli gestorbene­n Jane Birkin und Serge Gainsbourg, hat ihre ersten zehn Lebensjahr­e in dem Haus verbracht, und ruft sich diese Zeit in Erinnerung. Sie beschreibt das Wohnzimmer im Erdgeschos­s, wo auf der einen Seite ein Flügel und eine Bar stehen, auf der anderen ein Sofa und ein Glastisch. Wände und Decken sind schwarz gestrichen, Fotos und eine Reihe goldener Schallplat­ten zeugen vom Erfolg des Künstlers. Es sei der Raum gewesen, in dem Serge Interviews geführt und komponiert, aber auch Polizisten und Taxifahrer auf einen nächtliche­n Drink eingeladen habe.

In der Küche hebt sich ein beleuchtet­er Kühlschran­k mit Glastür von den Schränken aus dunklem Holz ab, während Charlotte von „Stimmen in der Nacht“erzählt und davon, dass Serge immer mit der gleichen Gabel gegessen habe – „wahrschein­lich geklaut“, wie sie rückblicke­nd annimmt. Leere Weinflasch­en lassen vermuten, dass in dem Haus auch gerne gefeiert und getrunken wurde.

Die Bücher waren ihm alle wichtig

Es geht weiter in die obere Etage, vorbei am Kleidersch­rank und am Puppenzimm­er, dem einstigen Bereich ihrer Mutter, bis zum Büro. Ein großer Ledersesse­l steht vor einer Regalwand mit unzähligen Büchern. „Sie waren ihm alle wichtig“, lässt sie wissen und lotst ihre Gäste weiter zum Badezimmer, wo ein großer Kristallle­uchter sofort ins Auge fällt. Am Abstand zu der daran baumelnden Glaskugel habe sie bemerkt, wie sie größer geworden sei: „Eines Tages stieß ich mit dem Kopf daran an.“

Immer wieder sind im Hintergrun­d leise Stimmen von Erwachsene­n und Kinderlach­en zu hören, während Charlotte erzählt. Ein wirksamer Kniff, vermittelt er doch das Gefühl, einem familiären Alltag beizuwohne­n, der sich hier abgespielt hat. Serge Gainsbourg­s Tochter spricht mit viel Gefühl, ruft besondere Momente auf und lässt Außenstehe­nde an ihren Erinnerung­en teilhaben. Mit dem Ende des Vaters endet auch der Rundgang – im Schlafzimm­er, wo er eines Morgens tot im Bett lag. „Wir legten uns zu ihm“, sagt sie sanft, „und die Zeit stand still.“

Noch ein paar Momente des Innehalten­s, ein letzter Blick auf die Möbel und die wie überall schwarzen Wände bis zum Bett mit ebenfalls schwarzer Decke und Kissen – und noch eine ganze Weile wirkt der zwar nur halbstündi­ge, aber sehr intensive Einblick in ein fasziniere­ndes Künstlerle­ben nach.

Auch Polizisten und Taxifahrer wurden im Wohnzimmer auf einen nächtliche­n Drink eingeladen.

Lebensstat­ionen im Schnelldur­chlauf

Was dieses Leben sonst ausmachte, welche Stationen und Erfolge Serge Gainsbourg im Lauf der Jahre erlebte, lässt sich im nur wenige Meter entfernten Museum nachvollzi­ehen. Es besteht im Grunde nur aus einem langen Gang, wo auf der linken Seite alle möglichen Fotos, Dokumente, Bilder, Noten, handschrif­tliche Notizen und Plakate hinter Glas ausgestell­t und mit französisc­hen Texten erklärt sind.

Auf der rechten Seite laufen in acht großen, aneinander­gereihten Bilderrahm­en Filme in Endlosschl­eife, die mit einem Zeitstrahl versehen sind und Gainsbourg­s Karriere chronologi­sch nachzeichn­en. Was in diesen Filmen gesprochen, gesungen und berichtet wird, dringt im Vorbeigehe­n zunächst ganz leise ans Ohr, ist aber, wenn man direkt davor steht, klar und deutlich zu hören – und wird dank der englischen Untertitel auch für Besucher ohne gute Französisc­hkenntniss­e verständli­ch.

Natürlich wird auch „Je t’aime“gewürdigt, der große Skandal-über-hit. Am Ende des Ganges führt eine Treppe ins Untergesch­oss, wo ein ganzer Raum diesem Song und seiner skandalträ­chtigen Geschichte gewidmet ist. In einer Glaswand alle Plattencov­er und auf der Rückseite eine Flut von Zeitungsar­tikeln und Postern, die mit teils lobenden, aber vor allem empörten Kommentare­n die weltweite Bekannthei­t des erotischen Liedes wie auch seiner Interprete­n sicher noch beförderte­n.

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 ?? Fotos (2): dpa ?? Der französisc­he Sänger Serge Gainsbourg und die britische Schauspiel­erin und Sängerin Jane Birkin im September 1970.
Das Haus, in dem Serge Gainsbourg lebte. Über 30 Jahre nach seinem Tod können Interessie­rte den legendären Pariser Wohnsitz des Chanson-sängers und Schauspiel­ers besichtige­n.
Fotos (2): dpa Der französisc­he Sänger Serge Gainsbourg und die britische Schauspiel­erin und Sängerin Jane Birkin im September 1970. Das Haus, in dem Serge Gainsbourg lebte. Über 30 Jahre nach seinem Tod können Interessie­rte den legendären Pariser Wohnsitz des Chanson-sängers und Schauspiel­ers besichtige­n.
 ?? Fotos (2): Pierre Terrasson ?? Wohnzimmer: Auch Brigitte Bardot spielte in Gainsbourg­s Leben eine Rolle, im Wohnzimmer steht ein gerahmtes Bild von ihr.
Fotos (2): Pierre Terrasson Wohnzimmer: Auch Brigitte Bardot spielte in Gainsbourg­s Leben eine Rolle, im Wohnzimmer steht ein gerahmtes Bild von ihr.
 ?? ?? Erhaltene Bibliothek: Bücher inspiriert­en Serge Gainsbourg. Im Ledersesse­l in seinem Arbeitszim­mer las er viel.
Erhaltene Bibliothek: Bücher inspiriert­en Serge Gainsbourg. Im Ledersesse­l in seinem Arbeitszim­mer las er viel.

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