Wiederaufbau hat längst begonnen
Die russischen Angriffe nehmen zu. In Berlin wird über Hilfe diskutiert. Yuliia Sachuk, die Leiterin der NGO Fight for Right, fordert, die Veteranen nicht zu vergessen.
Immer wieder, so Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), immer wieder werde sie gefragt, warum zum wiederholten Male bei einer Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine geredet werde, während doch der Krieg, teilweise mit neuer Härte, weiter tobt. „Die Menschen in der Ukraine haben keine Wahl“, erklärte Schulze während einer Pressekonferenz in Berlin. Sie müssten Häuser, Wasserleitungen, Kliniken und die Stromversorgung immer wieder aufbauen. „Aufgeben ist keine Option“, sagte Schulze.
Die ukrainische Vizepremierministerin und Wirtschaftsministerin, Yuliia Svyrydenko, stimmte dem leidenschaftlich zu. „Wir werden niemals aufgeben“, sagte Svyrydenko. Ganz oben auf der Prioritätenliste stünde jetzt der Wiederaufbau des Energiesektors. „50 Prozent unserer Kapazitäten wurden zerstört“, so die Ministerin.
Schulze wies aber auch darauf hin, dass der Krieg noch „eine andere Dimension“als die der zerstörten Häuser, Industrieanlagen oder Energiekapazitäten habe. Zunächst „unsichtbar“seien die seelischen Verletzungen der Menschen. „Denken wir nur an die vielen traumatisierten Kinder.“Im Interview mit dieser Zeitung Anfang Juni hatte Schulze von ihren Erfahrungen in der Ukraine berichtet. Sie zeigte sich in dem Gespräch beeindruckt von der Widerstandskraft der Ukrainer. „In Lwiw haben wir ein Rehabilitationszentrum und eine Prothesenwerkstatt besucht“, berichtete die Ministerin. „Viele Menschen verlieren in diesem Krieg Gliedmaßen und sind auf Prothesen angewiesen, die angefertigt werden müssen. Es war hart zu sehen, wie viele Kinder betroffen sind, denen Arme oder Beine fehlen, die sich aber im wahrsten Sinne des Wortes aufrichten und sagen: Es geht weiter, wir geben nicht auf.“
Für Yuliia Sachuk ist deswegen die Diskussion um den Wiederaufbau der Ukraine „entscheidender Bestandteil der Widerstandsfähigkeit des Landes“. Die Ukraine würde nicht mehr existieren,
wenn nicht schon jetzt immer wiederaufgebaut worden wäre, erklärt die Gründerin und CEO von Fight for Right, einer ukrainischen Organisation, die sich für die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzte und von Frauen mit Behinderungen geleitet wird.
Zivilgesellschaft gefragt
Sachuk ist aus Kiew zur Konferenz nach Berlin gereist. Denn auch die Zivilgesellschaft muss mit am Tisch sitzen bei diesem Thema, findet sie. „Wir müssen gehört werden. Wir sind eine alternative Stimme zur ukrainischen Regierung“, erklärt die Menschenrechtsaktivistin. In keiner Weise stellten sie sich gegen das Vorgehen der jetzigen ukrainischen Regierung. „Im Gegenteil: Wir möchten, dass unsere Arbeit wahrgenommen wird. Sowohl die Regierung als auch die
internationalen Akteure sollten wissen, dass sie sich auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen, auf unser Fachwissen und unsere Erfahrung verlassen können.“
Sachuk selbst organisierte nach dem Überfall Russlands mit ihrer Organisation Nothilfemaßnahmen für ukrainische Menschen mit Behinderungen. Teilweise
springe die Zivilgesellschaft immer noch für den Staat ein. Beispielsweise organisierten nichtstaatliche Organisationen die Evakuierungen von Menschen mit Behinderungen – weil es an staatlichen Mechanismen dafür weiter mangele, erklärt die 42-Jährige. Ebenso ergänzten die Organisationen „die Arbeit des Staates bei der Rehabilitierung von Veteranen mit Behinderungen und ihrer Eingliederung in das Arbeitsleben.“Die Organisationen fungierten oft als Kontrollinstanzen im Prozess des Wiederaufbaus des Landes, „und unsere Rolle in diesem Prozess wird immer wichtiger.“
Denn aus ihrer Sicht wird der Wiederaufbau nicht inklusiv genug gedacht. „Die Regierung schätzt, dass es bis zum Ende des Krieges etwa vier bis fünf Millionen Menschen mit Behinderungen geben wird“, so Sachuk. Doch das Thema Barrierefreiheit werde bei den aktuellen Diskussionen um den Wiederaufbau außen vor gelassen, kritisiert die Ukrainerin. Zwar sei die Zivilgesellschaft bereit, die Regierung bei der Arbeit daran zu unterstützen, doch müsse diese zunächst an die Gesetze ran, die einen barrierefreien Wiederaufbau derzeit noch verhinderten, fordert sie.