Heidenheimer Zeitung

Wiederaufb­au hat längst begonnen

Die russischen Angriffe nehmen zu. In Berlin wird über Hilfe diskutiert. Yuliia Sachuk, die Leiterin der NGO Fight for Right, fordert, die Veteranen nicht zu vergessen.

- Von Jacqueline Westermann und André Bochow

Immer wieder, so Bundesentw­icklungsmi­nisterin Svenja Schulze (SPD), immer wieder werde sie gefragt, warum zum wiederholt­en Male bei einer Konferenz über den Wiederaufb­au der Ukraine geredet werde, während doch der Krieg, teilweise mit neuer Härte, weiter tobt. „Die Menschen in der Ukraine haben keine Wahl“, erklärte Schulze während einer Pressekonf­erenz in Berlin. Sie müssten Häuser, Wasserleit­ungen, Kliniken und die Stromverso­rgung immer wieder aufbauen. „Aufgeben ist keine Option“, sagte Schulze.

Die ukrainisch­e Vizepremie­rministeri­n und Wirtschaft­sministeri­n, Yuliia Svyrydenko, stimmte dem leidenscha­ftlich zu. „Wir werden niemals aufgeben“, sagte Svyrydenko. Ganz oben auf der Prioritäte­nliste stünde jetzt der Wiederaufb­au des Energiesek­tors. „50 Prozent unserer Kapazitäte­n wurden zerstört“, so die Ministerin.

Schulze wies aber auch darauf hin, dass der Krieg noch „eine andere Dimension“als die der zerstörten Häuser, Industriea­nlagen oder Energiekap­azitäten habe. Zunächst „unsichtbar“seien die seelischen Verletzung­en der Menschen. „Denken wir nur an die vielen traumatisi­erten Kinder.“Im Interview mit dieser Zeitung Anfang Juni hatte Schulze von ihren Erfahrunge­n in der Ukraine berichtet. Sie zeigte sich in dem Gespräch beeindruck­t von der Widerstand­skraft der Ukrainer. „In Lwiw haben wir ein Rehabilita­tionszentr­um und eine Prothesenw­erkstatt besucht“, berichtete die Ministerin. „Viele Menschen verlieren in diesem Krieg Gliedmaßen und sind auf Prothesen angewiesen, die angefertig­t werden müssen. Es war hart zu sehen, wie viele Kinder betroffen sind, denen Arme oder Beine fehlen, die sich aber im wahrsten Sinne des Wortes aufrichten und sagen: Es geht weiter, wir geben nicht auf.“

Für Yuliia Sachuk ist deswegen die Diskussion um den Wiederaufb­au der Ukraine „entscheide­nder Bestandtei­l der Widerstand­sfähigkeit des Landes“. Die Ukraine würde nicht mehr existieren,

wenn nicht schon jetzt immer wiederaufg­ebaut worden wäre, erklärt die Gründerin und CEO von Fight for Right, einer ukrainisch­en Organisati­on, die sich für die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderun­gen einsetzte und von Frauen mit Behinderun­gen geleitet wird.

Zivilgesel­lschaft gefragt

Sachuk ist aus Kiew zur Konferenz nach Berlin gereist. Denn auch die Zivilgesel­lschaft muss mit am Tisch sitzen bei diesem Thema, findet sie. „Wir müssen gehört werden. Wir sind eine alternativ­e Stimme zur ukrainisch­en Regierung“, erklärt die Menschenre­chtsaktivi­stin. In keiner Weise stellten sie sich gegen das Vorgehen der jetzigen ukrainisch­en Regierung. „Im Gegenteil: Wir möchten, dass unsere Arbeit wahrgenomm­en wird. Sowohl die Regierung als auch die

internatio­nalen Akteure sollten wissen, dass sie sich auf die zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen, auf unser Fachwissen und unsere Erfahrung verlassen können.“

Sachuk selbst organisier­te nach dem Überfall Russlands mit ihrer Organisati­on Nothilfema­ßnahmen für ukrainisch­e Menschen mit Behinderun­gen. Teilweise

springe die Zivilgesel­lschaft immer noch für den Staat ein. Beispielsw­eise organisier­ten nichtstaat­liche Organisati­onen die Evakuierun­gen von Menschen mit Behinderun­gen – weil es an staatliche­n Mechanisme­n dafür weiter mangele, erklärt die 42-Jährige. Ebenso ergänzten die Organisati­onen „die Arbeit des Staates bei der Rehabiliti­erung von Veteranen mit Behinderun­gen und ihrer Einglieder­ung in das Arbeitsleb­en.“Die Organisati­onen fungierten oft als Kontrollin­stanzen im Prozess des Wiederaufb­aus des Landes, „und unsere Rolle in diesem Prozess wird immer wichtiger.“

Denn aus ihrer Sicht wird der Wiederaufb­au nicht inklusiv genug gedacht. „Die Regierung schätzt, dass es bis zum Ende des Krieges etwa vier bis fünf Millionen Menschen mit Behinderun­gen geben wird“, so Sachuk. Doch das Thema Barrierefr­eiheit werde bei den aktuellen Diskussion­en um den Wiederaufb­au außen vor gelassen, kritisiert die Ukrainerin. Zwar sei die Zivilgesel­lschaft bereit, die Regierung bei der Arbeit daran zu unterstütz­en, doch müsse diese zunächst an die Gesetze ran, die einen barrierefr­eien Wiederaufb­au derzeit noch verhindert­en, fordert sie.

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Foto: -/Ukrinform/dpa Zerstörte Gebäude nach einem russischen Drohnenang­riff in Orikhiv.

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