Ruf der Wildnis
Ed Stafford steht weltweit für extreme Naturerfahrung – Auch hierzulande wächst die Sehnsucht nach dem Abenteuer
Die Strecke auf dem Jakobsweg von Ravensburg nach Santiago de Compostella in Spanien beläuft sich auf rund 1870 Kilometer. Manche Wanderer legen diesen Weg am Stück zurück, viele auch etappenweise verteilt über Jahre. Wie aber muss es sich anfühlen, wenn sich die Strecke mehr als verfünffacht, die ausgebauten Wege durch schlammige Urwaldpfade und die Kaninchen am Wegesrand durch Alligatoren ersetzt werden? Davon berichten kann Ed Stafford. Stafford, ein ehemaliger britischer Army-Captain, ist der erste Mensch, der den 6448 Kilometer langen Amazonas zu Fuß von der Mündung bis zur Quelle entlang gewandert ist: am Stück, in 859 Tagen und der Umwege wegen über rund 9500 Kilometer.
Er wurde in Deutschland und auf der ganzen Welt mit seiner Fernsehserie „Marooned“bekannt, bei der er sich mal in den Mangrovensümpfen Neuguineas, mal in den Weiten Sibiriens oder in der Danakil-Wüste Äthiopiens aussetzen lässt – stets ohne Werkzeug, Nahrung oder Kleidung. „Die Lust am Abenteuer und am Survival“, sagt Stafford im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, „ist ein sehr wesentlicher Wunsch des wirklichen Lebens, um den Versuch zu machen, Dinge zu erleben, die wirklich wichtig sind und etwas bedeuten.“
Der grüne Filzhut samt Gamsbart, der hölzerne Wanderstecken und das Segeltuchzelt, mit denen die Großelterngeneration die Alpen erkundete, liegen längst verstaubt in einer Ecke des Kellers. Zwar zieht es die Menschen nach wie vor zum Zelten oder Wandern an den Bodensee, auf die Schwäbische Alb oder in den Schwarzwald, doch gleichzeitig erleben Naturerlebnispfade, Klettersteige, Bushcraft (grob übersetzt: Überlebenstechniken) und Survival einen Boom.
Der englische Begriff „Survival“stammt ursprünglich aus dem militärischen Bereich und bezeichnet das Trainieren von Fertigkeiten, die ein vorübergehendes Überleben in einer Notsituation ermöglichen. Besonders dieses Überleben ist der neue Trend. Frauen wie Männer zieht es in die unberührte Natur, um sich den Zivilisationsstaub aus den Poren zu schwitzen.
„Ich denke, dass viele Menschen sich darüber bewusst sind, dass sie ein Leben führen, das distanziert und irgendwie abstrakt ist“, sagt Stafford. „Täglich unter künstlichem Licht an einem Schreibtisch zu sitzen, stimmt so überhaupt nicht mit unserer inneren Uhr und unserem zirkadischen Rhythmus (SchlafWach-Rhythmus, Anm. d. Red.) überein. Für so ein Leben sind wir nicht geschaffen.“Es sei „nicht normal“, dass wir unser Essen nicht jagen und uns keine Sorgen über die Gefahren der Natur machen müssen.
Die steigende Nachfrage nach Abenteuern schafft Angebote: Vom eintägigen Überlebenscamp, in dem grobe Grundlagen wie Feuermachen oder einen Unterschlupf bauen, vermittelt werden, bis zum geführten Wochentrip in der Einsamkeit der Wälder des Balkans oder Skandinaviens gibt es für jeden Wunsch und jeden Geldbeutel etwas. Auch in Baden-Württemberg finden sich zahlreiche Anbieter, die das ganz persönliche Survival-Erlebnis versprechen. Mitten auf der Schwäbischen Alb im 530 Einwohner großen Justingen lebt Sven Schulz. Er bietet dem Otto-Normal-Verbraucher Survival vor der eigenen Haustür und in Nordschweden an. Der ehemalige Berufssoldat
mit dem Spitznamen „Flosse“ist in Berlin geboren und kam durch die Bundeswehr in die Region. Während dieser Zeit sammelte er die ersten Erfahrungen mit Überlebenstechniken; alleine und draußen in der Wildnis. „Hier in Deutschland ist es schwierig, größere Trips anzubieten. Jeder Wald gehört jemandem“, erklärt Sven Schulz. Die Gesetzgebung sei sehr strikt, besonders, wenn es sich um Natur- oder Landschaftsschutzgebiete handle.
Deswegen bietet der Survival-Coach auf der Alb hauptsächlich eintägige Grundkurse an, maximal werden es 72-Stunden-Ausflüge. Übernachten und Feuermachen sind nicht überall möglich. Da sich Schulz an die gesetzlichen Richtlinien hält, kooperiert er mit örtlichen Landwirten oder nutzt Grillplätze, an denen diese Dinge erlaubt sind. „Das schmälert natürlich das Naturerlebnis, und es kann vorkommen, dass man dort nicht alleine ist“, sagt er. Wer an seinen Grundkursen Spaß findet und mehr will, kann mit ihm nach Schweden gehen.
Dort gilt das „Allemannsrecht“. Dieses Jedermannsrecht ist ein in den nordischen Ländern (ausgenommen Dänemark) gültiges Gewohnheitsrecht, das allen Menschen bestimmte grundlegende Rechte bei der Nutzung der Wildnis zugesteht und ermöglicht so größere Ausflüge in die Natur. In Schweden besitzt Sven Schulz ein kleines Haus und etwas Land in der Gegend um Undrom. Von dort starten seine wöchentlichen Survival-Ausflüge. „Direkt hinter dem Haus beginnt die Wildnis, dann kommt die nächsten 300 bis 400 Kilometer nichts“, erzählt Sven Schulz. Die Teilnehmer reisen selbst an und übernachten noch einmal in einem richtigen Bett, bevor es losgeht.
Die Gruppen, mit denen er unterwegs ist, sind zwischen vier und acht Personen groß. Seine Kundschaft kommt aus Österreich, der Schweiz, aus England und Deutschland. „Heute ist alles so schnell geworden, überall erfahren die Menschen Druck und Stress. Da reicht es nicht mehr, einmal im Jahr für drei Wochen nach Malle zu fliegen“, sagt Schulz. „Da kommt man nicht mehr runter, da herrscht derselbe Stress“, erklärt er die Motivation, die seine Kunden in die Wildnis treibt. Am ersten und zweiten Tag dominiere noch der Enthusiasmus. „Am dritten Tag kehrt die Stille ein“, beschreibt er die sich entwickelnde Stimmung. Dann seien die Teilnehmer ein wenig erschöpft, halten inne und realisieren, „dass sie schon seit Tagen kein Auto oder anderen Zivilisationslärm gehört haben, sitzen meist einfach da, beobachten und genießen die reine Natur um sich herum“.
Deutschlands berühmtester Bushcrafter Kai „Sacki“Sackmann ist lieber auf sich allein gestellt, im Solo bewegt er sich abseits der eingetretenen Pfade und beliefert seine rund 100 000 Youtube-Fans wöchentlich mit neuen Videos. In diesen zeigt Sackmann seine Touren, bewertet Ausrüstungsgegenstände, erklärt alte Trapper- und WaldläuferTechniken und gibt Tipps für den ganz eigenen Wildnistrip. In Friedrichshafen besucht er jährlich die Outdoor-Messe. „Im Rahmen meiner Touren habe ich mir Oberschwaben bisher noch nicht erwandert, es steht aber definitiv auf meiner großen To-do-Liste, denn das DonauFlusstal mit seinen bizarren Felsformationen hat es mir angetan“, so Sackman. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, diesen Bereich einmal mit einem Boot zu durchpaddeln oder eine schöne Wanderung oberhalb der Felswände zu gehen und meinen Blick dann über die Donau schweifen zu lassen.“Auch der Premiumwanderweg Seegang am Bodensee sei ihm schon mehrfach empfohlen worden.
„Die Lust auf Abenteuer steckt tief in uns allen“, sagt Kai Sackmann. „Natürlich tritt sie aber bei dem einen etwas stärker hervor als bei dem anderen. Aber vom Grundsatz her wollen die Menschen neue und ungewohnte Erfahrungen machen, denn diese sind die Gewürze für unser Leben.“Andersherum gehe es den Leuten aber auch um Erholung in der heute doch oftmals sehr hektischen und schnelllebigen Zeit. „Und diese Erholung können wir in der Natur zum Nulltarif bekommen.“
Einer dieser Menschen, die das Naturerlebnis suchen und aus dem strukturierten und hektischen Leben ausbrechen möchte, ist ContractManager Andreas Wachter. Der 34Jährige ist in Renhardsweiler aufgewachsen, einem Teilort von Bad Saulgau, heute lebt er in München. An den Wochenenden ist er oft in den bayerischen Voralpen sowie dem Karwendel auf Bergwanderungen unterwegs. Am liebsten bereist er aber Skandinavien, etwa für eine siebentägige Solo-Wanderung auf dem nördlichen Kungsleden im schwedischen Teil Lapplands oder für eine Tour mit Huskies und Schlitten von Mittelschweden bis über die norwegische Grenze. Andreas Wachter erklärt seine Faszination für die Wildnis so: „Die Berge, die unberührte und teils endlos wirkende Landschaft sowie die teils rauen Bedingungen geben einem das Gefühl, dass die Themen und Probleme, die einen sonst beschäftigen, unbedeutend sind.“
Angst vor dem Unbekannten
In der Natur kommt es auch zu extremen Situationen, in denen nicht alles glatt verläuft, es bisweilen sogar gefährlich wird, was die Betroffenen aber nicht abschreckt: „Die Natur als Feind zu sehen, ist unüberlegt“, sagt Ed Stafford. „Wir sind alle Teil von ihr und ich freue mich sehr über jeden Moment, den ich auf diesem Planeten verbringen darf. Menschen haben Angst vor dem Unbekannten, das ist der einzige Grund, warum sie sich in der Natur nicht mehr wohl fühlen.“Es gebe Momente in der Wildnis, in denen die Gefährlichkeit der Situation einen übermanne, aber genau das sei der Zeitpunkt, um die Verbindung mit der Natur wiederzuentdecken. „Panik hilft dir nicht, dabei zu überleben. Klare Verbundenheit mit deiner Umgebung macht hingegen alles viel leichter“, fasst der Überlebensexperte seine Erfahrungen zusammen.
Bei allem Enthusiasmus über das wiedererstarkte Naturbedürfnis schwingt aber auch immer die Sorge um die letzten naturbelassenen Flecken mit. Kai Sackmann beobachtet die Entwicklungen kritisch: „Wenn man sich in den Sommermonaten die Situation an typischen, deutschen Natur-Hotspots anschaut, kann einem schon Angst und Bange werden; lärmende Wandergruppen, ausgeartete Feuerstellen, zerstörte Plätze und Unrat inmitten der Natur.“Jedoch würden solche Spuren nicht von den wirklichen Naturfreunden hinterlassen, sondern von eher „naturentfremdeten Rüpeln.“
Ed Stafford ist dennoch überzeugt, dass der zunehmende Tourismus Vorteile hat. „Generell, mal das Great Barrier Reef (in Australien) ausgenommen, sorgt der Tourismus dafür, dass die zusätzlichen Einnahmen die Verwaltung und den Erhalt einer Region begünstigen.“In diesem Sinne hat er selbst zahlreiche Expeditionen geleitet und neue Verkehrswege für Nationalparks erschlossen.
Manager Andreas Wachter sagt: „Die Natur gehört allen und ist ein kostbares Gut, das sehr sensibel auf äußere Einflüsse reagiert. Mir fehlt das Verständnis, wenn Menschen, die in der Natur unterwegs sind und dies genießen, ihren Müll zurück lassen, Pflanzen beschädigen oder Tiere aufschrecken.“Für ihn gelte: „Take nothing but memories, leave nothing but footprints” (Nehme nichts mit außer Erinnerungen, lasse nichts dort außer Fußspuren).
„Heute ist alles so schnell geworden, überall erfahren die Menschen Druck und Stress.“
Sven Schulz, ehemaliger Berufssoldat „Die Lust auf Abenteuer steckt tief in uns allen. Natürlich tritt sie aber bei dem einen etwas stärker hervor als bei dem anderen.“
Kai „Sacki“Sackmann, Überlebenskünstler