„Der Flüchtlingspakt muss neu verhandelt werden“
Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, zu den Folgen des Referendums für die deutsch-türkischen Beziehungen
- Die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Deutschlands mit der Türkei gehören auf den Prüfstand. Das sagt Cem Özdemir, Parteivorsitzender der Grünen, im Gespräch mit Andreas Herholz.
Eine knappe Mehrheit der Türken hat für Präsident Erdogan und seine geplante Verfassungsreform gestimmt. Was bedeutet dieses Votum für die Türkei?
Das ist ein schwarzer Tag für die türkische Demokratie. Das Land ist zutiefst gespalten. Der Opposition muss man ein großes Kompliment machen. Trotz aller Einschüchterungen bis hin zur Gewalt hat sich immerhin knapp die Hälfte der türkischen Bevölkerung für Demokratie und gegen eine Art orientalische Despotie Erdogans ausgesprochen. Das war so nicht zu erwarten. Erdogans Rede vom Balkon am Wahlabend lässt jedoch nichts Gutes erhoffen: Dort spricht er bereits von der Todesstrafe. Der Druck auf die Opposition wird noch massiver werden. Umso wichtiger ist es, dass wir Demokraten in Deutschland und Europa jetzt an der Seite dieser mutigen Menschen stehen.
Kann es unter diesen Bedingungen noch eine Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen geben?
Es kann kein einfaches „Weiter so“bei den EU-Beitrittsverhandlungen geben. Die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen gehören jetzt auf den Prüfstand. Unter einem Präsident Erdogan kann die Türkei unmöglich Mitglied der EU werden. Die Bundesregierung muss die militärische Zusammenarbeit mit Ankara herunterfahren. Wer Panzer an einen Despoten liefert, der die kurdische Frage militärisch lösen will und der die kurdische Bevölkerung durch seinen Krieg in Kollektivhaft für Verbrechen der PKK nimmt, trägt Mitverantwortung. Unsere Bundeswehrsoldaten sind in Incirlik unerwünscht und sollten dort abgezogen werden. Wir sollten nicht länger zur Finanzierung dieses türkischen Luftwaffenstützpunktes beitragen. Die Bundesregierung hat geradezu eine Leidenschaft entwickelt, sich hier demütigen zu lassen.
63 Prozent der Türken in Deutschland stimmten für die Verfassungsreform. Ein Alarmsignal?
Die Mehrheit der 3,5 Millionen Deutsch-Türken hat sich nicht an der Wahl beteiligt oder war überhaupt wahlberechtigt. Dass sich aber fast zwei Drittel der Deutsch-Türken, die an die Urnen gegangen sind, für Erdogan und seine Pläne einer Verfassungsänderung ausgesprochen haben, erschreckt mich. Wir brauchen eine Integrationsoffensive. Hier rächen sich jetzt die massiven Versäumnisse insbesondere der CDU und SPD aus den vergangenen Jahrzehnten. Aus der Ferne betrachtet wirkt Erdogan offenbar für viele Deutsch-Türken sympathischer als für viele aus der Nähe in der Türkei. Wer hier in Deutschland lebt, ist dem Grundgesetz verpflichtet und nicht der türkischen Verfassung. Wir müssen jetzt alles dafür tun, die Spaltung in der türkischen Gemeinde hierzulande zu überwinden. Eins muss klar sein: In Deutschland entscheidet der Deutsche Bundestag und nicht Ankara und der türkische Präsident. Eine türkische Pegida müssen wir genauso behandeln wie eine deutsche Pegida.
Wie geht es jetzt weiter mit dem Flüchtlingspakt zwischen der EU und Ankara?
Der Flüchtlingspakt muss neu verhandelt werden. Die Türkei, die mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als die Europäische Union, braucht weiterhin Hilfe. Das darf aber nicht bedeuten, dass wir bei Menschenrechtsverletzungen wegschauen.
Präsident Erdogan schließt eine Freilassung von Deniz Yücel aus, solange er im Amt sei. Was wird jetzt aus dem deutsch-türkischen Korrespondenten?
Wenn Journalisten ihren Job machen, nennt man das nicht Terrorismus, sondern Meinungs- und Pressefreiheit. Es ist schrecklich, wenn hier Deniz Yücel und andere Journalisten willkürlich festgehalten werden. Das Thema gehört ganz oben auf die Tagesordnung in den deutsch-türkischen Beziehungen. Ohne die Freilassung von Deniz Yücel kann es keine Rückkehr zu so etwas wie Normalität in den deutsch-türkischen Beziehungen geben.