Post aus Tallinn
Estland übernimmt mit dem heutigen Tag den Ratsvorsitz in der Europäischen Union. So weit, so normal. Doch es bleiben Zweifel grundsätzlicher Natur: Gibt es Estland wirklich? Oder ist es nur ein virtuelles Irgendwas, das durch die unendlichen Weiten des Internet wabert?
Die Esten durften jedenfalls 2005 als erste online wählen, 2015 gab fast ein Drittel der Bürger die Stimme im Internet ab. Kleine Esten verfügen über ein Online-Klassenbuch und lernen das Einmaleins digital. Der Este ist auch in Sachen Gesundheit komplett durchgepixxelt. In virtuellen Gesundheitsakten wird alles gespeichert – von der Geburt bis zum Tod. Es gibt neben dem Personalausweis eine computerlesbare ID-Karte und den E-Führerschein. Außerdem wickelt Estlands Regierung alle Amtsgeschäfte komplett papierlos ab. Laptops und Tablet ersetzen Aktenordner und Blöcke.
Das Problem an der Sache: Der oberste Digital-Este, Ministerpräsident Jüri Ratas, muss nun recht häufig mit EU-Kommissionschef JeanClaude Juncker in Kontakt treten. Der 62-Jährige wiederum, dies räumte er ein, hat nicht einmal ein Smartphone. Unlängst hatte Juncker deshalb von Ratas eine Postkarte erhalten – mit der Einladung nach Tallinn. Juncker freute sich und antwortete – auch per Postkarte. Darauf stand: „Ich dachte, in Estland gibt es gar kein Papier mehr.“Seit Donnerstag ist Juncker nun vor Ort. Ratas freute sich riesig. Gerüchte besagen, dass er tagelang nichts über den Verbleib des Luxemburgers wusste. Aber eine Kutschfahrt von Brüssel ins Baltikum dauert eben auch. (jos)