Als über dem Bodensee der Himmel brannte
Vor 15 Jahren starben bei der Flugzeugkollission nahe Überlingen 71 Menschen – Helfer und Angehörige lässt das Drama bis heute nicht los
- Ihnen fehlten angeblich nur 1,5 Sekunden. Ein flüchtiger Augenblick, so kurz wie ein Herzschlag, hätte wohl ausgereicht, um der Kollision über dem Bodensee zu entgehen und so die Katastrophe zu verhindern. Die 69 Passagiere und Besatzungsmitglieder des Flugs 2937 der Bashkirian Airlines hatten diese 1,5 Sekunden nicht, als sich die Wege ihrer Tupolew TU-154 und einer von zwei Piloten gesteuerten Boeing 757 der DHL kreuzten.
Der Rumpf der russischen Tupolew rammte sich in die Erde. Brennende Trümmerteile verfehlten um nur wenige Meter Wohnhäuser und ein Kinderheim. Wie durch ein Wunder wurde am Boden niemand verletzt. Das zweite Flugzeug, eine Frachtmaschine, die mit der Tupolew zusammenstieß, zerschellte acht Kilometer weiter bei Owingen. In der russischen Maschine befanden zumeist Kinder und Jugendliche aus der Teilrepublik Baschkirien. Sie waren gemeinsam mit ihren Betreuern auf dem Weg in den Badeurlaub, als Belohnung für gute Schulleistungen. Niemand überlebte den Absturz.
15 Jahre ist das jetzt her. Und noch immer reisen jedes Jahr Eltern der Opfer an den Bodensee, auch an diesem Samstag kommen rund 90 Angehörige zur zentralen Gedenkstätte im Überlinger Ortsteil Brachenreuthe, eine öffentliche Andacht ist für 22 Uhr geplant.
Die Gerichte haben den Fall zu den Akten gelegt, doch die Menschen bewegt das Flugzeugunglück noch immer. So sehr, dass sich jetzt auch Hollywood des Stoffs angenommen hat. „Nachwirkungen“lautet der Titel des Films übersetzt; er erzählt die Geschichte des Fluglotsenmörders Witali Kalojew. Der Ossete hat bei dem Absturz beide Kinder sowie seine Frau verloren. Zwei Jahre später ersticht der verbitterte Vater den Unglückslotsen aus dem Züricher Tower, angeblich im Affekt.
Was der Film nicht erzählt, sind die Geschichten der Menschen vom Bodensee, die das Unglück nicht vergessen können. Und es ist auch die Geschichte von Sulfat Chammatov aus Ufa, der bei dem Unglück seinen elfjährigen Sohn verlor.
Sulfat Chammatov (57; Foto: privat),
Ökonom aus Baschkirien, Hinterbliebener: Wenn er sich heute an die ersten Stunden und Tage nach der Schreckensnachricht aus Deutschland erinnert, stockt ihm manchmal der Atem. „Es war sehr schwer, nach der Katastrophe das Bett zu sehen, in dem Arthur geschlafen hatte. Da lagen noch all seine Sachen, die für uns sehr wertvoll geworden waren“, sagt der trauernde Vater. Dass sein Junge für immer von ihm gegangen ist, mögen er und seine Frau Ida auch 15 Jahre später nicht wirklich glauben: „Für meine Familie ist es so, als wäre das erst gestern geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Arthur nur irgendwohin weggefahren ist.“
Nachdem ihre Welt zusammenbrach, brauchten die Eheleute Chammatow eine „neue Hoffnung“. Darum nahmen sie das Angebot der Behörden an, eine andere Wohnung in der Millionenstadt Ufa zu beziehen. Sie bekamen zwei Kinder – Timur (13) und Iskander (9). Der frühere Atheist Sulfat wendete sich zu Gott. „Er nahm uns einen Sohn und gab uns zwei andere“, sagt er. Das Ölbild des kleinen Arthur in einer Art Schrein inmitten seines Wohnzimmers lächelt immer die Chammatows an, wenn der Imam vorbeikommt, um ein Gebet für das kleine Opfer des Flugzeugunglücks zu sprechen.
Trotzdem: Der Schmerz ist nicht verschwunden, nur leiser geworden. Zwei Gedanken spenden Sulfat Chammatow Trost. Dass ein Gericht auf Druck der Hinterbliebenen die Ursachen und Schuldigen für die Katastrophe klar benannt hat. Eine der Konsequenzen daraus war, dass die Kollisionswarntechnik in den Flugzeugen sicherer geworden ist. Der zweite Gedanke ist die Zuversicht, dass er die Anwesenheit von Arthur am Ort der Katastrophe spüren kann, dort, wo an den Ufern des Bodensees die gepflanzten baschkirischen Tannen wachsen. „Wenn wir dort sind, sprechen wir mit den Bäumen“, sagt der ergraute Brillenträger. „Wir sagen ihnen die Worte, die wir gerne unserem lebendigen Kind sagen würden. Danach können wir eine Weile weiterleben.“
Bernhard Kitt (56, Foto: Michael Scheyer),
Obstbauer im Haupterwerb, Feuerwehrmann: Ein lauter Knall, dann schlägt der Funkmelder Alarm. Wie immer muss es jetzt ganz schnell gehen. „Von der Wohnung ins Auto und los“, erinnert sich Kitt. Noch glaubt der freiwillige Feuerwehrmann an einen Routineeinsatz. Dass sich in fast 11 000 Metern Höhe gerade eines der schlimmsten Flugzeugunglücke über deutschem Boden ereignet hat, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Auch nicht, dass der vordere Teil der Tupolew eine Schneise der Verwüstung in seine Apfelplantage in Brachenreuthe gerissen hat – genau dort, wo er vor zwei Stunden noch mit dem Traktor unterwegs war.
Das komplette Ausmaß des Unglücks wird ihm erst später bewusst, nachdem er zusammen mit weiteren Feuerwehrmännern die ersten Trümmerteile eingesammelt hat. „Tote Kinder lagen in den Hagelnetzen“, erinnert er sich.
Wie bekommt man solche Bilder jemals wieder aus dem Kopf? „Selbst wenn ich 15 Jahre später hier in die Plantage fahre, hab ich sofort den Geschmack von Kerosin in der Nase. Und nach drei Tagen den Geschmack von Leichen“, erzählt Kitt. Auch die Bilder seien ihm geblieben. „Aber sie verfolgen mich nicht im Schlaf.“Geholfen haben ihm Gespräche mit Kollegen, mit seinem Bruder – und eine allgemein positive Einstellung zum Leben. „Das ist immer eine einfache Waffe, etwas wegzubringen.“
Russische Angehörige haben vor Jahren eine Blaufichte in die Plantage gepflanzt, die inzwischen eine stattliche Höhe erreicht hat. Daneben, in den Maschen eines Zauns, hängt eine Holztafel mit der Aufschrift „Akhmetov Arsen Fatikhovich, 1987-2002“. „Das alles“, sagt Kitt vor seinen Apfelbäumen, die auch für die Angehörigen ein wichtiger Ort der Erinnerung geworden sind, „das gehört jetzt einfach dazu.”
Martin Hennings (47, Foto: Michael Scheyer),
Journalist: Wenn
sich am Himmel über Friedrichshafen die Kondensstreifen kreuzen, kehren die Bilder zurück. Es sind keine Bilder von Leichen, sondern die Gesichter von Lebenden: von freiwilligen Helfern und Rettungskräften, die wissen, es gibt nichts mehr zu retten. Und dann sind da die leeren Augen im Gesicht einer baschkirischen Mutter, die ihn durch die Linse seiner Kamera betrachten.
Es ist ein Donnerstag – Hennings ist bereits seit drei Tagen und Nächten als Reporter im Einsatz – als das Unglück für ihn ein Gesicht bekommt. In einem Pulk aus Journalisten steht er an einer der Absturzstellen in Brachenreuthe. Zunächst sei die Stimmung noch entspannt gewesen. „Man kannte sich, war auf Reportermodus gepolt und hat nicht viel nachgedacht.“
Dann kommt der Bus. Die Journalisten zücken die Kameras und fotografieren. In dem Bus sitzen Angehörige der Opfer auf dem Weg zur Absturzstelle, darunter auch die baschkirische Mutter mit den leeren Augen. „Es war auf einmal totenstill, man hat nur noch das Klicken der Kameras gehört, keiner hat mehr etwas gesprochen.“Noch heute geht ihm die Geschichte unter die Haut, wenn er sie erzählt. „In diesem Moment habe ich mich schon gefragt: Was mach’ ich hier eigentlich?“
Gemeinderatssitzungen, Autounfälle, Stadtfeste – das war sein Alltag als Lokalredakteur. In einer lauen Sommernacht im Juli 2002 muss er dann plötzlich über ein Ereignis berichten, das die Welt erschüttert. Und zwar so, sagt Hennings, dass er später noch ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel schauen konnte. Denn auch die üblichen Katastrophenreporter sind in der Nacht unterwegs, auf der Jagd nach dem besten Bild. Als ein Journalist Obstbauer Bernhard Kitt drängt, auf seiner Plantage fotografieren zu dürfen, ihm schließlich sogar Geld bietet, platzt ihm der Kragen. Kitt schlägt zu, muss später Schmerzensgeld zahlen. Er bereut das bis heute nicht.
Der Polizei ist es zu verdanken, dass solche Szenen die Ausnahme bleiben. Vor Kitts Apfelplantage waren riesige Folienwände aufgebaut. Dass dahinter das größte Wrackteil mit den meisten Kinderleichen lag, blieb den Objektiven der rund 100 Journalisten verborgen. Von diesem Teil der Tupolew existieren lediglich Aufnahmen der Polizei.
Der Mord an dem Lotsen, juristische Auseinandersetzungen: Als Journalist hat sich Hennings noch Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt. Und auch als Mensch beschäftigt ihn das Unglück bis heute. Immer dann, wenn sich am Himmel über Friedrichshafen die Kondensstreifen zweier Flugzeuge kreuzen.
Hans-Peter Walser (73, Foto: Michael Scheyer),
ehemaliger Leiter der Polizeidirektion Friedrichshafen: Damals, am Tag des Unglücks, war Hans-Peter Walser bereits 58 Jahre alt, hatte mehrere Jahrzehnte lang Erfahrung in der Polizeiarbeit gesammelt. Doch was sich in der Nacht zum 2. Juli 2002 ereignete, überstieg alles, was davor war.
Als er an dem lauen Sommerabend mit seiner Frau auf der Terrasse sitzt und der Anruf kommt, glaubt er noch an den Absturz eines Kleinflugzeugs, wie er in der Region immer wieder mal vorkommt. Noch während er sich auf dem Weg zum Einsatzraum macht, hört er dann den Funkspruch: „Es regnet Leichen vom Himmel“, sieht zugedeckte Opfer am Straßenrand. Noch in der Nacht musste Walser nach einer kurzen, natürlichen „Chaos-Phase“dem Einsatz Struktur geben, Absperrmaßnahmen einleiten, Seelsorger der Polizei mobilisieren. Auch der Bodensee, der Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgt, musste abgesucht werden. Am Donnerstag, als die Angehörigen der Opfer kamen, sind laut Walser bis zu 1500 Polizisten im Einsatz gewesen. „An diesem Tag musste man natürlich auch kulturelle Besonderheiten beachten und ein hohes Maß an Sensibilität aufbringen.“
Walser erzählt das alles mit der Besonnenheit eines leitenden Polizeibeamten. Als er jedoch auf seine ehemaligen Kollegen und die Angehörigen der Opfer zu sprechen kommt, kann er seine Betroffenheit nicht verbergen. „Ich fühle heute noch eine tiefe und redliche Dankbarkeit gegenüber allen Helfern, die zum Teil sogar ihre Gesundheit für diesen Einsatz geopfert haben.“Dankbar sei er auch für die Beamten an seiner Seite. „Ohne deren Hilfe hätte ich es nicht geschafft.“Was bleibt, sind jedoch nicht nur Erinnerungen an den bundesweit größten Polizeieinsatz dieser Art. „Im Laufe der Jahre haben sich auch Freundschaften herauskristallisiert.“Mit zwei Familien aus Baschkirien hat der 73-Jährige noch heute regelmäßig Kontakt. Wenn an diesem Samstag die Angehörigen in Brachenreuthe der Toten gedenken, wird Walser sie wieder treffen.