Neues Leben in alten Mauern
Italien kämpft mit allen Mitteln gegen die Landflucht – Alte Häuser werden praktisch verschenkt
In Gangi kostet ein Haus fast so viel wie ein Espresso. Egidia de Benedictis glaubte ihren Augen nicht, als sie das las. „Wie kann das sein? Das müssen wir uns ansehen!“, habe sie zu ihrem Mann gesagt. Und so reiste das Paar aus Belgien in den kleinen sizilianischen Ort zwischen Catania und Palermo, in dem es sie wirklich gibt: Häuser für einen Euro.
In Gangi ist wenig zu spüren von der Quirligkeit und dem Durcheinander Palermos zwei Autostunden entfernt. Der Ort wurde auf einen Felsen gebaut, etwa 6700 Menschen leben noch dort. In der Altstadt scheint die Zeit im Mittelalter stehen geblieben zu sein. Zwischen Steinmauern und unzähligen Kirchen begegnet man in den engen, steilen Gässchen auch an einem sonnigen Herbsttag nur wenigen Leuten. Pittoresk ist der Ort, keine Frage: umgeben von Wanderwegen, mit Blick auf den stolzen Vulkan Ätna. Doch nur von schöner Aussicht kann niemand leben. Viele ziehen deshalb weg, in die größeren Städte oder gleich ins Ausland.
Bürgermeister Francesco Paolo Migliazzo ist so stolz auf die Idee, die Gangi wiederbeleben soll, als wäre sie seine eigene gewesen. Der Deal: Wer in Gangi ein Haus für einen Euro kauft, verpflichtet sich, das Gebäude innerhalb von drei Jahren zu restaurieren und hinterlegt eine Bürgschaft von 5000 Euro. Die Ziele: „Das historische Zentrum aufwerten. Die Kommune wiederbevölkern. Die lokalen Handwerker unterstützen“, sagt Migliazzo. Um die hundert Häuser wurden in den vergangenen Jahren für einen Euro verkauft, seit Migliazzos Vorgänger Giuseppe Ferrarello die Initiative angestoßen hatte. Nachah- mer gibt es in Gemeinden der Toskana oder im Latium.
Alessandro Cilibrasi, ein Italiener, der sein Zigarettenpäckchen nur selten aus der Hand gibt, bringt die verlassenen, vernachlässigten und baufälligen Steinhäuser mit seinem Partner Santo Bevacqua an den Mann. Die Gebäude sind noch im Besitz der eigentlichen Eigentümer. Sie haben der Kommune Bereitschaft signalisiert, sie für einen Euro zu verkaufen. Auf der Homepage der Gemeinde kann man sich einen ersten Eindruck von den rund 30 Niedrigpreis-Objekten verschaffen. Oder direkt zu Cilibrasi in den alten Fiat steigen, der viel zu schnell durch die schmalen Straßen kurvt.
Er schließt ein kleines Eckhaus auf. Im Eingangsbereich liegt Müll, Licht gibt es nicht. Das Erdgeschoss wurde früher als Stall genutzt. An den unverputzten Wänden sind noch die Eisenringe zu sehen, an denen Tiere festgemacht wurden. „Vorsicht, nur hier hintreten“, sagt Cilibrasi auf der Treppe ins Obergeschoss. Mit viel Fantasie erkennt man in dem Gebäude ein uriges Wohlfühl-Häuschen. Aber dafür ist viel Arbeit und Geld nötig.
„In den Häusern für einen Euro fiel alles in sich zusammen – es war viel zu viel zu tun", sagt die 69-jährige de Benedictis. Cilibrasi habe dem Paar aber ein anderes Haus ge- zeigt. Das musste zwar auch renoviert werden, war aber in einem ganz guten Zustand, wie de Benedictis sagt. Die belgischen Rentner schlugen 2014 zu – und investierten etwa 75 000 Euro.
Auch Laura Maria Aliénor Radulescu aus Stuttgart kam das erste Mal wegen der Ein-Euro-Häuser nach Gangi, gekauft hat die 30-Jährige ebenfalls ein teureres. „Von außen sehen die Häuser vielleicht ganz süß aus, aber man muss wirklich alles von Null an bauen. Und wenn man kein Haus für einen Euro kauft, hat man auch sein ganzes Leben Zeit, um zu renovieren.“
Radulescu ist Künstlerin und Designerin. Wie ihr Haus nach dem Umbau aussehen soll, hat sie sich selbst ausgedacht. Im untersten Stock soll ein Atelier entstehen. Eine Heizung muss noch eingebaut und die Hälfte des Treppenhauses neu gemacht werden. Wenn das Haus einmal fertig ist, könnte sie sich vorstellen, Deutschland für immer zu verlassen und auf Sizilien zu leben – aber nur, wenn sie einen Job findet. „Ich habe da eine Seelenheimat gefunden.“
Ob sich mit Italien-Liebhabern und Teilzeitbürgern der Einwohnerschwund in Gangi wirklich aufhalten lässt? Fraglich. Doch die Werbetrommel ist gerührt – und die Not der Landflucht hat auch andernorts die Fantasie in den Rathäusern Italiens angeregt. In Castel del Giudice, wo die Einwohnerzahl seit den 1960erJahren von 1500 auf 340 sank, wurden verlassene Ställe in ein Hotel mit Gourmetrestaurant verwandelt. Und auf der Mittelmeerinsel Ventotene wirbt der Bürgermeister um Migrantenkinder, damit die Schule nicht geschlossen wird.
Initiativen wie die im sizilianischen Gangi, also ein Haus für einen Euro, finden sich inzwischen überall in Italien. Auch in der landschaftlich wildromantischen Region Abruzzen, die durch ihre schweren Erdbeben im vergangenen Jahr weltweit für Aufsehen sorgte. In der Ortschaft Lecce nei Marsi beispielsweise können alte Häuser ebenfalls für nur einen Euro erworben werden. Bei den Renovierungsarbeiten, die sehr umfangreich werden können, weil viele der Gebäude statisch abgesichert werden müssen, will die Region den Hauskäufern finanziell unter die Arme greifen – heißt es.
Lecce nei Marsi liegt mitten im Nationalpark der Abruzzen. Rund 1500 Menschen leben hier noch. Die Ortschaft ist unbestritten eine der malerischsten der ganzen Region. Doch die jungen Einwohner ziehen dennoch fort. „Und so hoffen wir“, erklärt Bürgermeister Gianluca De Angelis, „dass vielleicht Ausländer herkommen, um sich hier eine Ferienresidenz einzurichten, denn schauen Sie, wie schön es hier ist!“. Zwei französische Ehepaare und ein britischer Hobbymaler, versichert De Angelis, „haben sich bei uns schon eingekauft“.
Landflucht ist ein großes Thema in Italien. Vor allem junge Leute ziehen verstärkt in die Großstädte. In einem Staat, in dem die Jugendarbeitslosigkeit im nationalen Durchschnitt bei 33 Prozent liegt, mit Höchstwerten von bis zu 45 Prozent in Süditalien, halten es junge Menschen nicht auf dem Land aus. Sie hoffen, dass sie in den Städten irgendeine Arbeit finden. Die Folgen sind dramatisch, vor allem in Süd- und Mittelitalien, wo Landwirte nur noch selten Nachfolger finden, die die Höfe weiterbetreiben.
Der italienische Staat verschenkt sogar eigene Immobilien, in der vagen Hoffnung, auch auf diese Weise den Trend zur Landflucht abzubremsen. Über 100 Staatsimmobilien, fast alle fernab von Großstädten, werden an junge Menschen unter 40 Jahren verschenkt, die bereit sind, darin Start-ups oder andere Unternehmen zu gründen. Auf diese Weise will man junge unternehmungslustige und mutige Italiener aufs Land locken, damit sie dort Arbeit und Arbeitsplätze schaffen. Verschenkt werden alte und leerstehende Bahnhöfe, Schulgebäude, historische Altbauten wie Palazzi und ehemalige Fabriken, aber auch ehemalige Klöster und Kirchen, die dem Staat gehören. Zu den verschenkten Gebäuden zählt etwa auch ein alter Bahnhof in der Region Kalabrien, im Hinterland von Reggio di Calabria. Hier versuchen Matteo Sancini und zwei seiner Freunde mit einem von der Region finanziell geförderten TourismusStart-up ihr Glück. Ihr Ziel ist es, Urlauber aufs Land zu locken, „damit sie hier bei uns essen und trinken und Besichtigungstouren in die Region buchen“, erklärt Matteo Sancini. „Wir hoffen, dass diese landschaftlich wunderbare Gegend endlich wieder belebt wird und nicht zu einer Wüste wird, in der nur noch alte Menschen leben“.
Der Bahnhof wird derzeit in ein „gastronomisch-touristisches Multifunktionszentrum“umgebaut, erklärt der Jungunternehmer. Im ersten Geschoss soll es fünf Gästezimmer geben. Davon sollen auch Landwirte in der Umgebung profitieren, vor allem jene, die Bioprodukte herstellen. Ähnliche Projekte finden sich inzwischen in ganz Italien, vor allem in ländlichen Gegenden und in abgelegenen Regionen. Ob all diese Initiativen wieder mehr Leben aufs Land bringen, weiß noch niemand.