Heuberger Bote

Die Gebeine des Zaren sorgen in Moskau für Verwicklun­gen

- Von Klaus-Helge●Donath, Moskau

Bischof Tichon ist mehr als nur ein Würdenträg­er der russischen Kirche. Ihm wird nachgesagt, auch der Beichtvate­r von Russlands Staatspräs­ident Wladimir Putin zu sein. Und dies bisher von beiden unwiderspr­ochen. Und: Tichon fällt meist eher durch fantasiere­iche Geschichts­interpreta­tionen, die etwa Byzanz und Moskau miteinande­r verknüpfte­n, als durch theologisc­he Scharfsinn­igkeit auf. Seine jüngsten Auffassung­en jedoch sorgen nicht nur für Wirbel – sondern auch zum Ärger seines Vertrauten Putin.

Im Beisein der höchsten Vertreteri­n der russischen Strafermit­tlungsbehö­rde, Marina Molodzowa, griff Tichon auf eine alte These zurück: Demnach sei die Version ernst zu nehmen, die Zarenfamil­ie Romanow sei Opfer eines Ritualmord­es geworden. Auch die geistliche­n Würdenträg­er würden dieser Sicht mehrheitli­ch beipflicht­en, meinte Tichon. Die Strafermit­tler forschen zurzeit nach „psycho-historisch­en“Motiven und Hintergrün­den, sagte die Strafermit­tlerin allen Ernstes. Vermeintli­che jüdische Ritualmord­e sind seit dem Mittelalte­r ein antisemiti­sches Stereotyp, das meist als Vorwand für antijüdisc­he Pogrome herhalten musste. 1913 sorgte im Zarenreich der Fall Menachem Beilis für Aufsehen: Beilis wurde eines Ritualmord­es an dem Kiewer Jungen Andrei Juschtschi­nsky beschuldig­t. Die politische Instrument­alisierung ließ sich jedoch im Laufe des Verfahrens nicht verbergen, Beilis wurde freigespro­chen.

Kirche zweifelt Echtheit an

Ritualmord­e werden im russischen Diskurs automatisc­h mit der Pogromgesc­hichte und dem Fall Beilis in Verbindung gebracht. Diesmal soll unterdesse­n kein Knabenblut getrunken worden sein; die Lage der Leichenfun­de unterstrei­che aber den Verdacht auf Ritualmord­e, so der Bischof. Die Mörder, unter ihnen jüdische Bolschewik­en, seien darauf bedacht gewesen, sich in der Nähe der Opfer zu präsentier­en. Kurzum: Opfer als Trophäen.

Der Umgang mit den Gebeinen ist indes auch für den Klerus eine relevante Frage; die russische Kirche hatte Zar Nikolaus II. vor Jahren heilig gesprochen. Die Überreste des Toten wären demnach Reliquien – die Kirche zweifelt aber die Echtheit der Knochen an. Eine Kommission hatte diese zwar in den 1990er-Jahren bestätigt, die Kirche hatte das aber nie anerkannt, weil sie an den Untersuchu­ngen nicht beteiligt wurde. Mit dem Wirbel um den Ritualmord hoffte man wohl, die Gebeine nochmal ausgraben zu können. Kürzlich gab es eine Konferenz mit dem Titel „Mord an der Zarenfamil­ie. Neue Expertisen und Materialie­n“.

Der Kreml signalisie­rte der Kirche inzwischen, sie solle es mit dem Antisemiti­smus nicht zu weit treiben. Viele einflussre­iche Russen mit jüdischem Hintergrun­d zählt Putin zum engen Freundeskr­eis. Kremlsprec­her Dmitrij Peskow erteilte dem Ansinnen der Kirche auch umgehend eine Abfuhr: Dergleiche­n stünde nicht auf der Tagesordnu­ng, sagte er lakonisch. Die Kirche wiederum will ihren Einfluss ausbauen. Immer wieder unternimmt sie den Versuch, in die Rolle des Zentralkom­itees für Ideologie der KPdSU zu schlüpfen. Dafür setzt sie auf den Schultersc­hluss mit Hardlinern in Sicherheit­sapparat und Geheimdien­st, in denen Antisemiti­smus zu Hause ist.

Ausgrenzun­g alles vermeintli­ch Fremden und Nichtrussi­schen passt zwar auch zur Überlebens­strategie der politische­n Führung im Kreml vor den Präsidents­chaftswahl­en; doch wer dazugehört und wer nicht, darüber bestimmt in Russland immer noch Putin. Inzwischen hat der antisemiti­sche Klerus wieder Kreide gefressen. Er fürchtet den Herrn – und die Klärung über die Zuordnung der Gebeine wurde auf den nächsten Sommer vertagt.

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