„Jude ist wieder zum Schimpfwort geworden“
Holocaust-Überlebende Charlotte Knobloch wünscht sich mehr Engagement – auch von muslimischen Verbänden
„Wenn ich die kompletten 18 Jahre zurückdenke, befürchte ich, dass es zugenommen hat“, sagt Shneur Trebnik, der in Israel geboren ist und vor 18 Jahren nach Deutschland gekommen ist. Auch er selbst wurde Opfer antisemitischer Provokationen. „Ich war auf dem Weg nach Hause, als ein Mann mich gefragt hat, warum ich wie ein Rabbiner bekleidet herumlaufe“, erinnert sich der 42-Jährige, den die Kippa, der schwarze Hut und der dunkle Anzug als gläubigen Juden ausweisen. „Er sagte, ich würde ihn als Deutschen provozieren.“
Es seien „zunehmende Einzelfälle“, sagt Trebnik. Viele der jüngeren Gemeindemitglieder würden sich in den Schulen nicht als Juden zu erkennen geben. Die große Mehrheit der Ulmer sehen laut Trebnik das jüdische Leben in ihrer Stadt zwar positiv oder neutral, und nicht „anti“. „Aber das ,Anti’ nimmt leider zu.“Den Großteil der antisemitischen Straftaten begehen Rechte, zeigen die Statistiken. „Allerdings haben wir Rückmeldungen aus der jüdischen Gemeinde,
- Die Situation für jüdische Menschen in Deutschland hat sich zugespitzt. Das sagte Charlotte Knobloch (85), Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, im Gespräch mit Daniel Hadrys.
Frau Knobloch, haben Sie das Gefühl, dass der Antisemitismus in Deutschland wieder zunimmt?
Es ist eine Erfahrung, ein Gefühl, das leider alltäglich geworden ist. Ich habe mir auch nicht vorgestellt, dass ich das in dieser Form noch mal kommentieren muss. Der Antisemitismus war aber nie weg. Er wird nur wieder offen und ungeniert geäußert. Das merkt man auch an den Briefen und E-Mails, die mich und die jüdischen Gemeinden in unserem Land erreichen. Das Tabu ist längst gefallen. Antisemitische Parolen und Aussagen sind wieder an der Tagesordnung. Es ist für mich nicht zu verstehen, dass Jude wieder zum Schimpfwort in den Sportvereinen, in den Klassenzimmern und auf den Schulhöfen geworden ist.
Viele sorgen sich wegen des Antisemitismus, der mit zugewanderten Menschen muslimischen Glaubens aus Nahost und Nordafrika nach Deutschland gekommen ist.
Diese Menschen kommen aus arabischen und muslimischen Ländern. Schon als Kinder werden sie im Hass auf das Judentum und das jüdische Leben erzogen. Vielerorts ist Judenhass sogar Staatsräson. Diese Haltungen werden an der Grenze nicht abgegeben. Das ist natürlich eine Herausforderung für die Integration, die meines Erachtens nicht durchgreifen wird. Es ist nicht das erste Mal, dass man dieses Problem benennt und diese Äußerungen ächtet. Da sehe ich auch die muslimischen Verbände in der Pflicht. Aber da setzt man auf Verniedlichung und Wegducken.
Wo wächst Antisemitismus noch?
Antisemitismus muss nicht importiert werden. Er ist keine deutsche Erfindung, aber er hat auch hierzulande feste Wurzeln und gedeiht prächtig. Der Antisemitismus kommt von rechts, wo er durch die braune Renaissance der letzten Jahre Vorschub erhalten hat und enthemmt geäußert wird. Er kommt aber auch von links, wo er unter dem Deckmantel einer ressentimentbehafteten Kapitalismuskritik oder einer moralisch verbrämten, diffamierenden, delegitimierenden und doppelte Standards anlegenden Israel-Kritik verbreitet wird. Antisemitismus gibt es aber auch in der breiten Mitte der Gesellschaft. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Letztlich es ein Hass auf Menschen, der, wie wir wissen, tödliche Folgen haben kann.
In Europa ist Antisemitismus ein großes Problem. Viele Juden, die beispielsweise in den Pariser Vororten leben, überlegen, von dort wegzuziehen. Befürchten Sie so etwas auch für Deutschland?
Selbstverständlich äußern mir gegenüber jüdische Menschen Zukunftsängste. Die Situation hat sich auch in Deutschland zugespitzt. Gott sei Dank hat jetzt der Deutsche Bundestag parteiübergreifend – leider auch mit den Stimmen der AfD und unter Enthaltung der Linken – einen Antisemitismus-Beauftragten durchgesetzt. Es war eine positive Parlamentsdebatte und ein wichtiger Schritt. Ich hoffe, es wird sich nun auch positiv weiterentwickeln, sodass wir uns künftig nicht mehr darüber unterhalten müssen, dass zu wenig getan wird. Ich hoffe sehr, dass der Kampf gegen Antisemitismus künftig differenzierter, systematischer und ernsthafter auf allen Ebenen der Gesellschaft geführt wird und der Judenhass irgendwann der Vergangenheit angehört.
Welchen Beitrag kann der Antisemitismus-Beauftragte leisten?
Er muss den Antisemitismus ehrlich, selbstkritisch und offensiv an der Wurzel packen. Es muss überlegt werden, in welcher Form Lehrpläne und Schulbücher überarbeitet werden müssten. Es gilt, Polizei und Justiz zu sensibilisieren, Antisemitismus in all seinen offenen und verdeckten Formen zu erkennen und dagegen anzugehen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind hohe Güter bei uns. Aber sie dürfen den Antisemitismus nicht decken. All diese Themen auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen muss der Beauftragte oder die Beauftragte in Gang setzen. Der Antisemitismus bedroht die Zukunft jüdischen Lebens in unserem Land, das bereits mit einer dunklen Vergangenheit behaftet ist. Ob man die Juden hier haben will, ist letztlich die Frage, die der Antisemitismus-Beauftragte beantworten sollte. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, man kann sie nicht nur einem Teil der Bevölkerung aufbürden.