Aufstand der Orbán-Gegner
In Ungarn gingen am Sonntag so viele Menschen zur Wahl wie lange nicht – Davon profitiert die Opposition
- Noch nie seit 1989 haben sich so viele Ungarn an Wahlen beteiligt wie an diesem Sonntag. Premier Viktor Orbán dürfte von dem überraschenden Rekord kaum profitieren. Eine dritte Amtszeit in Folge ist ihm sicher, doch seine konfrontative Politik stößt an Grenzen.
Mitten am Wahltag brach die Webseite des nationalen Wahlbüros zusammen. Die „digitale Urne“blieb zeitweise unerreichbar. Die Opposition witterte Sabotage der OrbánPartei Fidesz dahinter, denn es sind vorwiegend ihre Wähler, die per Mausklick abstimmen. Die Wahlbehörde berief sich auf eine „unerwartete Überbelastung“.
Bereits in den Vormittagsstunden hatte sich eine ungewöhnlich hohe Beteiligung abgezeichnet. Um 13 Uhr hatten 42 Prozent der rund acht Millionen Stimmberechtigten gewählt, vor vier Jahren waren es um diese Zeit nur 34 Prozent gewesen. Am Ende rechneten Wahlbeobachter mit weit über 70 Prozent, der höchsten Beteiligung seit der demokratischen Wende.
Stundenlanges Warten
Vor den Abstimmungslokalen in vielen Wahlkreisen bildeten sich lange Schlangen, in manchen Bezirken der Hauptstadt Budapest mussten Wähler stundenlang warten. Noch am Sonntagabend um 20.30 Uhr, eineinhalb Stunden nach Wahlschluss, harrten vor einem Wahllokal im elften Bezirk Budapests noch 3000 bis 4000 Menschen aus. Auch Ungarns diplomatische Vertretungen in Europas Hauptstädten und den USA meldeten einen Ansturm von Auslandsungarn wie selten bei einer Wahl.
Der Andrang hat die Auszählung der Stimmen stark verzögert, einigermaßen gesicherte Resultate wurden erst gegen Mitternacht erwartet. Doch galt als sicher, dass Orbáns Partei Fidesz einschließlich ihres christdemokratischen Anhängsels KDNP klar die stärkste Partei bleiben wird. Die 2014 errungene Zweidrittelmehrheit der Mandate galt schon vor der Wahl als nicht wiederholbar. Am Sonntag stand für Orbán auch die absolute Mehrheit auf der Kippe.
Denn von der überraschend hohen Wahlbeteiligung profitieren vor allem die Oppositionsparteien. Doch Beobachtern zufolge ist es nicht deren Verdienst, sondern die Ablehnung der Politik Orbáns, die das hohe Nichtwählerpotenzial mobilisiert hat. Die rechte Jobbik als zweitstärkste Kraft, gefolgt von den Sozialisten (MSZP) sowie die Grünen (LMP) und die Jugendbewegung Momentum können alle mit Stimmengewinnen auf Kosten der Regierungsparteien rechnen.
Regierungsnahe Medien wie „Magyar Idök“erklärten den Ansturm ganz banal mit dem warmen Frühlingswetter. Das wäre jedoch eher ein Grund zum Fernbleiben. Das plausiblere Motiv: Nach acht Jahren Orbán-Regierung ist die Stimmung offenbar gekippt, auch die Meinungsforscher hatten davon kaum etwas gemerkt.
Allerdings dürfte der Instinktpolitiker Orbán am Ende des Wahlkampfs etwas von dem Stimmungswandel gewittert haben. Seine Warnungen vor einem Ansturm Tausender Migranten klang bei den letzten Wahlkampfauftritten immer schriller, das Verschwörungsgerede immer absurder. Ein Zeichen, dass die Angstparolen nicht mehr so richtig wirken – also musste er die Dosis erhöhen.
„Schicksalswahl“
Bei seiner Stimmabgabe im Budapester Nobelviertel Zugliget sagte Orbán: „Es geht um die Zukunft Ungarns.“Bei der Abschlusskundgebung in Séksfehérvár hatte er von einer „Schicksalswahl“gesprochen. Oppositionsparteien, „die vom Ausland bezahlt werden“, würden die Balkanroute wieder öffnen wollen, den Grenzzaun zu Serbien „niederreißen und Ungarn in ein Einwanderungsland verwandeln“.
Mit dem Ausland meint Orbán den aus Ungarn stammenden, 87-jährigen US-Milliardär Georges Soros, der in seinem alten Heimatland regierungskritische Hilfsorganisationen finanziert, sowie die EU und die UNO, deren Flüchtlingspolitik Orbán als „ungarnfeindlich“ablehnt. Er forderte die Zuhörer auf: „Sagt es allen, sie wollen die ersten 10 000 Migranten noch in diesem Jahr nach Ungarn bringen.“Damit die Botschaft auch ankommt, fügte der Premier hinzu: „Mit der Massenintegration kommt auch eine erhöhte Terrorgefahr ins Land.“
Doch was vor allem jüngere Wähler zu den Wahlurnen trieb, ist offenbar eher die Wut über den Korruptionssumpf der Orbán-Regierung. Der Fidesz kontrolliert nicht nur den Staatsapparat, weitgehend die Justiz und die Medien, sondern auch ein Netz von parteinahen Firmen. Frühere Schul- und Studienfreunde sind zu schwerreichen Oligarchen aufgestiegen, die Minister, Staatssekretäre und manch hohe Beamte kräftig schmieren.
Bislang wurde Orbán selbst nicht mit diversen Skandalen in Verbindung gebracht, aber immer mehr Ungarn halten ihn zumindest politisch dafür verantwortlich. Dass zuletzt auch sein Schwiegersohn István Tiborcz, ein 31-jähriger Unternehmer, von der EU-Kommission beschuldigt wurde, Fördergeld veruntreut zu haben, war ein weiteres Beispiel für Orbáns kleptokratischen Hofstaat.