Gründe für den Aderlass
Experten sehen wenig Schuld bei den Kirchen – Christliche Werte werden geschätzt
(dpa/epd) - Ein Anstieg der Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen käme nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack „einem Wunder gleich“. Die Mitglieder seien überaltert, und die Jugend werde „so wenig im Glauben erzogen, wie das in Deutschland in den letzten Jahrzehnten nie der Fall war“, sagte der Experte von der Universität Münster.
Der Publizist Andreas Püttmann („Gesellschaft ohne Gott“) sagte, der Mitgliederrückgang bei evangelischer und katholischer Kirche sei nicht so sehr demografisch bedingt, sondern lasse sich vor allem darauf zurückführen, dass die Weitergabe des Glaubens nicht mehr richtig funktioniere. „Wir sehen deshalb jetzt erdrutschartige Abbrüche in der jungen Generation.“
Trends außerhalb der Kirche
Das liegt aus der Sicht von Religionssoziologen kaum an einem falschen kirchlichen Angebot, sondern an allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, an denen die Kirche nichts ändern könne: zunehmender Wohlstand, Individualisierung, Urbanisierung, vielfältige Freizeitmöglichkeiten, Bildungsexpansion, Mobilitätszunahme. „Die Selbstbezeichnung als religiöser Mensch ist seit Jahrzehnten im leichten Sinkflug“, sagte Püttmann.
Allerdings verläuft der Schwund noch sehr gemäßigt, wenn man bedenkt, dass nur jedes zehnte Kirchenmitglied am Gottesdienst teilnimmt. „Insofern ist nicht erklärungsbedürftig, warum jedes Jahr „wieder so viele“die Kirchen verlassen, sondern, warum es so wenige sind“, sagte Püttmann. „Der Aderlass der Volksparteien und vieler Vereine war größer.“Die Erklärung sei, dass der christliche Beitrag für eine humane, menschenwürdige Gesellschaft geschätzt werde. „Die Furcht vor einer Gesellschaft ohne Gott ist auch bei kirchlich Randständigen und Agnostikern verbreitet“, sagte Püttmann. „Deshalb scheuen auch viele Zweifler eine Totaldistanzierung von der Kirche.“Genauso sieht es Pollack: „Die Kirche ist in unserer Kultur und Geschichte und auch in den Familien tief verankert. Die Menschen spüren, dass sie etwas Gutes und Sinnvolles aufgeben, wenn sie die Kirche verlassen.“
Der an der Universität Leipzig tätige Religionssoziologe Gerd Pickel sieht in sozialen Angeboten eine Möglichkeit für die Kirchen, jüngere Menschen für sich zu gewinnen. Etwa in der Flüchtlingshilfe gebe es derzeit die Situation, dass sich eher kirchenferne Jugendliche als Helfer bei kirchlichen Angeboten engagierten, erklärte der Wissenschaftler.