DAS ENDE EINER ÄRA
Auch der Otto-Versand verabschiedet sich vom gedruckten Katalog
HAMBURG/RAVENSBURG - Mit einem lauten Plumps fällt der dicke Otto-Katalog in den Briefkasten. Sofort springen alle Familienmitglieder auf. Jeder will den Katalog als Erstes durchblättern, stöbern, Eselsohren in die Seiten machen, auf denen ein T-Shirt, eine Bohrmaschine oder eine Waschmaschine gefällt, um sich später ewig lange Nummern zu notieren und diese per Telefon oder auf einer Postkarte an den Otto-Versand zu übermitteln und dann auf sein Paket zu warten. Jahrzehntelang haben sich Szenen wie diese in deutschen Haushalten abgespielt. Bald gehören sie endgültig der Vergangenheit an, denn nun schafft auch der Hamburger Versandhändler Otto seinen Katalog ab.
Der Hauptkatalog mit dem Sortiment Frühjahr/Sommer 2019 wird im Dezember zugestellt, er wird der letzte seiner Art sein. Der erste OttoKatalog erschien 1950, ein Jahr nach der Firmengründung. Er war handgebunden, Auflage 300 Stück, und umfasste 14 Seiten, auf denen ausschließlich 28 Paar Schuhe zu sehen waren. Doch es blieb nicht lange bei Schuhen. Das Sortiment wuchs, später führte das Unternehmen den Kauf auf Rechnung ein. Das Bestellen ohne Risiko machte den Katalog vor allem bei Familien beliebt. Mit ihren Katalogen prägten die Versandhändler die deutsche Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit.
Keine Katalog-Kunden mehr
Der Katalog, intern aufgrund seiner hohen Seitenanzahl auch „Big Book“genannt, war immer Aushängeschild des Unternehmens. Mittlerweile bräuchten die Kunden ihn aber nicht mehr, teilt der Hamburger Versandhändler mit. „Die Kunden haben den Katalog selbst abgeschafft, weil sie ihn immer weniger nutzen und vor allem in den vergangenen zehn Jahren zur Onlinebestellung übergegangen sind. Der Katalog lohnt sich einfach nicht mehr“, sagt ein Otto-Sprecher. Mehr als 95 Prozent des Umsatzes mache das Unternehmen mittlerweile online. Dafür bietet Otto einen Internetauftritt und mobile Anwendungen an, über die rund drei Millionen Produkte aufgerufen werden könnten. Der Hauptkatalog spiele als Vertriebskanal schon seit Jahren mit einem einstelligen Prozentanteil am Gesamtumsatz von 2,95 Milliarden Euro eine untergeordnete Rolle für Otto. Entlassungen seien trotz des Endes des Katalogs nicht geplant.
Otto hat, im Gegensatz zu den beiden großen Konkurrenten Neckermann und Quelle, den Sprung in die Digitalisierung geschafft. Der ehemalige Konkurrent Quelle ging 2009 pleite, Neckermann stellte seinen Katalog 2012 ein, meldete noch im selben Jahr Insolvenz an. Neben den Konkurrenten, die nach ihren Insolvenzen übrigens beide von der OttoUnternehmensgruppe gekauft wurden, hat sich nur Otto bis heute gehalten. Das Unternehmen ist aktuell nach Amazon der zweiterfolgreichste Onlinehandel in Deutschland. „Wir haben die Digitalisierung immer parallel mitentwickelt, während Konkurrenten allein auf den ewigen Erfolg des Katalogs vertraut haben“, erklärt ein Otto-Sprecher. Trotzdem versuchte auch Otto lange an der Beliebtheit des Katalogs festzuhalten. Im Jahr 2008 wirbt Otto online mit Videos unter dem Titel „Kataloge braucht man immer“für das dicke Printerzeugnis. In den Videos sind skurrile Situationen zu sehen, in denen die Macher empfehlen einen Otto-Katalog in Griffweite zu haben – sei es, wenn es darum geht, dem nervenden Ehemann einen vor den Latz zu knallen oder einen Einbrecher wirkungsvoll in Schach zu halten.
Tor zur Mode- und Konsumwelt
Auf ironische Weise wollte das Unternehmen so wieder mehr Menschen an den Katalog heranführen. Früher, vor allem zu seinen Hochzeiten in den 1970er- und 1980er-Jahren, in denen die Auflage bei zwölf Millionen und nicht wie heute im niedrigen einstelligen Millionenbereich lag, war das nicht nötig. Damals nutzten die Kunden die dicken Bücher nicht nur um einzukaufen.
Die Kataloge schafften es auch, den Menschen die Türe zur großen Mode- und Konsumwelt zu öffnen, und boten den Kunden eine Möglichkeit, sich über aktuelle Trends zu informieren. „So wurde vor allem für Menschen, die in ländlichen Regionen wohnten, vieles einfacher. Die Ware, für die man sonst eine weite Reise in die nächste Stadt antreten musste, wurde einfach nach Hause geliefert“, sagt Thomas Asche, Studiengangsleiter Handel/Vertriebsmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Ravensburg. Asche war selbst für verschiedene Versandhändler, unter anderem für Quelle, tätig. „Das System Katalog hat sich inzwischen einfach überlebt. Im Internet geht das alles schneller und unkomplizierter. Das ist der normale Gang. Wir fahren ja heute auch nicht mehr mit Dampflokomotiven“, sagt Asche. Heute habe der Katalog als Leitmedium ausgedient und nur noch eine Impulsgeberfunktion, sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung (IFH) in Köln: „Natürlich haben noch einige Kunden gerne durch den Katalog geblättert. Wenn ihnen etwas gefallen hat, haben sie es aber dann online bestellt.“Die Handelsexperten Asche und Hudetz sind sich einig: Die Abschaffung des Katalogs sei eine logische Konsequenz der Digitalisierung, trotzdem gehe damit ein Teil der deutschen Wirtschaftsgeschichte zu Ende. „Ich überlege sogar, ob ich mir den letzten Katalog zuschicken lasse. Einfach aus nostalgischen Gründen, um den letzten Otto-Katalog zu besitzen“, sagt Asche.
Ganz Schluss mit Otto-Heften ist dann aber doch nicht. Nach Angaben des Unternehmenssprechers soll es in Zukunft kleine Broschüren zu Spezialthemen wie Küche oder Garten geben. Der dicke Hauptkatalog landet aber nur noch ein Mal mit einem lauten Plumps in den deutschen Briefkästen. Im Dezember. Zum allerletzten Mal.