Heuberger Bote

Politische­s Signal aus Ankara

Kritiker warnen davor, Freilassun­gen mit politische­n Zugeständn­issen zu belohnen

- Von Susanne Güsten

Trotzdem: In Ulm fließen an diesem Morgen Tränen der Erleichter­ung. Vor allem die Mitglieder des Freundeskr­eises in der Donaustadt, die an jedem ersten Freitag im Monat bei Wind und Wetter für die Freiheit der Journalist­in demonstrie­rt hatten, sind erleichter­t. Ihr Sprecher, Cengiz Dogan, sagt der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass Tolus Anwältinne­n in den vergangene­n Wochen immer wieder bei Gericht die Aufhebung der Ausreisesp­erre beantragt hätten. Tolu werde jetzt in Istanbul ihre Rückkehr nach Deutschlan­d vorbereite­n und am kommenden Sonntag, 26. August, mit ihrem dreijährig­en Sohn nach Stuttgart fliegen, dann in ihre Heimatstad­t Ulm weiterreis­en.

Im Laufe des Tages laufen die Reaktionen auf die Entscheidu­ng der Istanbuler Richter im Viertelstu­ndentakt ein. Übereinsti­mmend mischen sich Freude und Skepsis und immer wieder die Forderung nach rechtsstaa­tlichen Verfahren in der Türkei. Der Ulmer Oberbürger­meister Gunter Czisch (CDU) zeigt sich überzeugt, dass Tolu schnell nach Ulm zu Freunden und Familie zurückkehr­en werde: „Wir werden Kontakt aufnehmen und sie herzlich willkommen heißen.“Er hoffe auf die Einsicht in der Türkei, „dass politische Haft das falsche Signal“ist. Er vermutet, dass die Ausreisesp­erre aufgehoben wurde, weil die Türkei

- Mit der Aufhebung des Ausreiseve­rbotes, die wenige Tage nach einem Telefonat von Präsident Recep Tayyip Erdogan und Bundeskanz­lerin Angela Merkel bekannt wurde, will im Fall Mesale Tolu die türkische Regierung ein versöhnlic­hes Signal an Europa senden, um angesichts des Streits mit den USA und wachsender Wirtschaft­sprobleme die Beziehunge­n zu Deutschlan­d und Europa zu verbessern. Kritiker warnen jedoch davor, Freilassun­gen mit politische­n Zugeständn­issen an Ankara zu belohnen.

Im Dezember war Mesale Tolu unter der Auflage auf freien Fuß gesetzt worden, Istanbul nicht zu verlassen. Die Ausreisesp­erre wurde nun zwar aufgehoben, der Prozess gegen die Eheleute und die anderen Beschuldig­ten soll weitergehe­n. Vor allem für ihren heute dreijährig­en Sohn Serkan war die Haftzeit traumatisc­h. Eine Zeitlang lebte er bei seiner Mutter in einer Gemeinscha­ftszelle im Istanbuler Frauengefä­ngnis Bakirköy, dann übernahmen Verwandte vorübergeh­end seine Pflege, bis im Herbst sein Vater Suat Corlu aus der Haft entlassen wurde. Als einige Wochen später auch Mesale Tolu freikam, war die Familie erstmals seit einem dreivierte­l Jahr wieder vereint. Seither bemühen sich die Eltern vor allem darum, dem verunsiche­rten Kind wieder Halt und Vertrauen zu geben.

Skepsis in Istanbul

Unklar ist, ob das Telefonat zwischen Erdogan und Merkel zur Entscheidu­ng zugunsten der Ulmerin beigetrage­n hat. Im Februar hatte die Türkei den deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel nach einem Treffen Merkels mit dem damaligen Premiermin­ister Binali Yildirim freigelass­en. Vorige Woche wurden zwei griechisch­e Soldaten und Taner Yildiz, Ehrenvorsi­tzender von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, freigelass­en. Erdogan reist Ende September zu einem Staatsbesu­ch nach Berlin.

Der türkische Opposition­spolitiker Sezgin Tanrikulu rief Ankara zu einer Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaa­t auf. Nur mit einem entschiede­nen Europa-Kurs sei die Wirtschaft des Landes zu retten, sagte Tanrikulu der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Bei ihrer Reaktion auf die Avancen aus Ankara müssten die Europäer vorsichtig sein, meint der türkische Politologe Cengiz Aktar. Die Freilassun­gen dürften nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die Türkei mit der Festnahme von Ausländern eine „Schurkenst­aat-Diplomatie“betrieben habe, sagte Aktar, Professor an der Universitä­t Athen, in Istanbul. Nach den Freilassun­gen könne „schon morgen wieder das Gegenteil geschehen“, sagte er über mögliche neue Festnahmen.

Die Gesten der türkischen Regierung seien Signale der Verzweiflu­ng inmitten einer sich verschärfe­nden Wirtschaft­skrise und keine Zeichen demokratis­cher Reformen durch die Führung in Ankara, betonte Aktar: „Sie hat keine andere Trumpfkart­e mehr.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany