Und plötzlich war alles anders ...
Zehn Jahre Lehman-Brothers-Insolvenz: Unternehmen gehen gestärkt aus Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09
TUTTLINGEN - Die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers hat am heutigen Samstag vor zehn Jahren Insolvenz anmelden müssen. In der Folge entwickelte sich die globale Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09, die auch vor dem Kreis Tuttlingen nicht Halt machte und Unternehmen und Banken vor ungeahnte Herausforderungen stellte.
„Wir haben das Aufkommen und die Entwicklung der Finanzkrise mit Sorge betrachtet, aber sofort vor Panikmache gewarnt. Wir wussten: Natürlich geht die Krise nicht spurlos an der regionalen Wirtschaft vorüber“, sagt Thomas Albiez, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg. In Deutschland gebe es die Tendenz, eine Situation schlimmer zu reden als sie sei. Das Gebot der Stunde sei es gewesen, kühlen Kopf zu bewahren: „Und das haben wir gemeinschaftlich – Politik, Verwaltung und Wirtschaft gleichermaßen – getan“, urteilt er.
Die Unternehmen hätten eine gute Eigenkapitalquote, Produkte und Prozesse optimiert. Die Arbeitnehmer in der Region seien laut Albiez wie nirgendwo sonst qualifiziert: „Deshalb waren Entlassungen im großen Stil keine Option. Die Unternehmen haben es geschafft, unter allen Umständen ihre Fachkräfte zu halten. Außerdem hat sich das Instrument der Kurzarbeit als sehr wirkungsvoll erwiesen.“
Keine Kreditklemme
Ein Zünglein an der Waage hätten auch die regionalen Sparkassen und Genossenschaftsbanken mit ihren Kreditvergaben gespielt. Es habe laut Albiez keine spürbare Kreditklemme gegeben. „Zahlreiche Unternehmen verzeichneten massive Umsatzrückgänge, teilweise mehr als 50 Prozent. Infolgedessen war die Kreissparkasse gefordert, den Unternehmen zusätzliche Liquidität, zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs, zur Verfügung zu stellen“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Kreissparkasse Tuttlingen, Markus Waizenegger. Auch er bestätigt, dass zahlreiche Unternehmen die Krise erfolgreich bewältigt und sich positiv entwickelt hätten. Das Eigenkapital und die Liquidität hätten bei ihnen inzwischen an Bedeutung gewonnen.
Ein Unternehmen, das die Finanzund Wirtschaftskrise deutlich zu spüren bekommen hat, ist der Mechatronik-Spezialist Marquardt aus Rietheim. „Zahlreiche Aufträge unserer internationalen Kunden blieben aus, wir konnten wichtige Investitionen nicht tätigen, mussten stattdessen harte Sparprogramme durchführen und im Geschäftsjahr 2009 einen dramatischen Umsatzeinbruch hinnehmen“, berichtet Harald Marquardt, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Marquardt.
Dass der Mechatronik-Spezialist diese „schmerzhafte Zäsur nicht nur überstanden, sondern letztlich gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist“, sei vor allem den loyalen und engagierten Mitarbeitern zu verdanken gewesen: „Sie waren es, die die Entscheidungen des Managements mitgetragen, trotz harter Verzichtsleistungen weiter gekämpft und nie aufgegeben haben.“So konnte Marquardt bereits im Jahr 2010 ein Umsatzwachstum von weit mehr als 40 Prozent erzielen und Marktanteile hinzugewinnen.
Dagegen hatte die Mutter des Tuttlinger Medizintechnik-Unternehmens Aesculap, die B. Braun
Melsungen AG, nicht so sehr mit den Turbulenzen zu kämpfen: „Die zum Teil dramatischen konjunkturellen Einbrüche des Jahres 2009 waren aber auch im Gesundheitsmarkt zu spüren“, betont Franziska Hentschke, Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit bei B. Braun. Die auf organischem Wachstum basierende Konzernstrategie gepaart mit konservativen Finanzierungsentscheidungen, habe zu einer positiven Entwicklung des Unternehmens selbst in der Finanzund Wirtschaftskrise beigetragen.
In den vergangenen Jahren hätte B. Braun von den nach der Krise stark gesunkenen Zinsen profitiert. „Gesunkene Zinskosten ermöglichen B. Braun höhere Investitionen in seine Produktionsstandorte und Produkte, ohne dabei seine konservative Finanzstrategie aufgeben zu müssen“, berichtet sie.
Dass schnell wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen gewesen ist, bestätigt auch Jürgen Findeklee, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Schwarzwald-Donau-Neckar. „Die Unternehmen waren so aufgestellt, dass sie wenige Mitarbeiter entlassen mussten. Das war der Erfolg für den schnellen Aufschwung nach der Krise“, sagt er. Hätten die Unternehmen die Fachkräfte entlassen, hätten sie seiner Meinung nach nicht so gut durchstarten können.
Allerdings seien die Unternehmen durch die Krise heute viel vorsichtiger geworden und würden mehr auf die Eigenkapitalquote achten. Gerade in der prosperierenden Region Schwarzwald-Baar-Heuberg sei das gut möglich – anders als in anderen Teilen der Republik. Für die Banken hätten die Jahre 2008/09 eine stärkere Regulatorik hervorgebracht. „Die Kosten und der Aufwand haben für uns stark zugenommen“, sagt Findeklee.
Aber nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Kommunen hatten eine schwierige Zeit zu überstehen: „Für uns hat sich die Krise – naturgemäß etwas zeitversetzt – durch einen Einbruch bei der Gewerbesteuer bemerkbar gemacht. Die Einnahmen fielen zwischen 2008 und 2010 von 37 auf 25 Millionen Euro“, betont Tuttlingens Stadtsprecher, Arno Specht. Daher habe die Stadt Tuttlingen mehrere Großprojekte geschoben. Er nennt dabei die neue Feuerwache, die Erweiterung und Sanierung der Hermann-Hesse-Realschule sowie die städtische Beteiligung am Neubau des Kindergartens Maria Königin. „Außerdem gab es einen Einstellungsstopp sowie eine Haushaltsstrukturkommission, die Einsparmöglichkeiten bei den Fixkosten untersuchte. 2010 wurde der Hebesatz der Gewerbesteuer um 30 Punkte von 335 auf 365 erhöht“, sagt der Stadtsprecher. Mittlerweile haben sich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer wieder auf Normalwerte eingependelt. Diese liegen in der Regel bei 35 Millionen Euro pro Jahr.
Die Verunsicherung im Handwerk sei laut des Konstanzer Handwerkskammer-Präsidenten, Gotthard Reiner, groß gewesen. „Gerade Betriebe, die von der exportorientierten Industrie abhingen, waren betroffen“, betont er. Die Unsicherheit habe zunächst zu einer Zurückhaltung bei der Einstellung von neuen Mitarbeitern und Auszubildenden geführt. „Dennoch lagen die Beschäftigtenund Ausbildungszahlen 2009 und 2010 auf stabilem Niveau, da gemeinsam Möglichkeiten entwickelt wurden, am Bestandspersonal festzuhalten“, konstatiert Reiner.
Nach einer kleinen Konjunkturdelle habe sich das Handwerk vor allem im Baubereich schnell erholt. Grund hierfür sei etwa die gute Binnennachfrage und die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) gewesen: „Anstatt Geld in unsichere Wertpapiergeschäfte anzulegen, haben die Kunden ihr Kapital vermehrt in sichere Werte wie in die eigene Immobilie, energiesparende Maßnahmen oder Ähnliches investiert“, sagt Reiner.
Die Politik habe schnell und weitsichtig reagiert und durch die Konjunkturpakete Schlimmeres verhindern können. Hilfreich für das Handwerk waren etwa die Abwrackprämie und Erleichterungen beim Kurzarbeitergeld. Er verschweigt aber auch nicht, dass in der Folge der Krise einige Handwerksbetriebe aufgrund fehlender Aufträge Insolvenz anmelden mussten.
Nächste Blase droht, zu platzen
Ist aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gelernt worden? Zehn Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers droht laut Albiez mit der „ultralockeren Geldpolitik“der EZB das Platzen der nächsten Blase. Das Schuldenproblem soll dabei mit neuen Schulden gelöst werden. Auch der Staat finanziere dadurch seine schwarze Null, ohne aber seinen Haushalt wetterfest zu machen.
„Obwohl vor zehn Jahren nicht nur etablierte und namhafte Weltfirmen, sondern ganze Volkswirtschaften in den Strudel des Abschwungs geraten sind, hat die Politik leider bis heute nicht alle notwendigen Reformen konsequent umgesetzt“, betont auch Harald Marquardt. Er glaube zwar nicht, dass dieselben Fehler noch einmal gemacht werden. „Doch noch immer müssen Banken von Steuergeldern gestützt werden. Und wenn jetzt erneut und wider besseren Wissens dereguliert werden soll, wie es etwa der amerikanische Präsident Donald Trump anstrebt, so wäre das definitiv ein Schritt in die falsche Richtung“, sagt er.