Heuberger Bote

Und plötzlich war alles anders ...

Zehn Jahre Lehman-Brothers-Insolvenz: Unternehme­n gehen gestärkt aus Finanz- und Wirtschaft­skrise 2008/09

- Von Christian Gerards

TUTTLINGEN - Die US-amerikanis­che Investment­bank Lehman Brothers hat am heutigen Samstag vor zehn Jahren Insolvenz anmelden müssen. In der Folge entwickelt­e sich die globale Finanz- und Wirtschaft­skrise der Jahre 2008/09, die auch vor dem Kreis Tuttlingen nicht Halt machte und Unternehme­n und Banken vor ungeahnte Herausford­erungen stellte.

„Wir haben das Aufkommen und die Entwicklun­g der Finanzkris­e mit Sorge betrachtet, aber sofort vor Panikmache gewarnt. Wir wussten: Natürlich geht die Krise nicht spurlos an der regionalen Wirtschaft vorüber“, sagt Thomas Albiez, Hauptgesch­äftsführer der IHK Schwarzwal­d-Baar-Heuberg. In Deutschlan­d gebe es die Tendenz, eine Situation schlimmer zu reden als sie sei. Das Gebot der Stunde sei es gewesen, kühlen Kopf zu bewahren: „Und das haben wir gemeinscha­ftlich – Politik, Verwaltung und Wirtschaft gleicherma­ßen – getan“, urteilt er.

Die Unternehme­n hätten eine gute Eigenkapit­alquote, Produkte und Prozesse optimiert. Die Arbeitnehm­er in der Region seien laut Albiez wie nirgendwo sonst qualifizie­rt: „Deshalb waren Entlassung­en im großen Stil keine Option. Die Unternehme­n haben es geschafft, unter allen Umständen ihre Fachkräfte zu halten. Außerdem hat sich das Instrument der Kurzarbeit als sehr wirkungsvo­ll erwiesen.“

Keine Kreditklem­me

Ein Zünglein an der Waage hätten auch die regionalen Sparkassen und Genossensc­haftsbanke­n mit ihren Kreditverg­aben gespielt. Es habe laut Albiez keine spürbare Kreditklem­me gegeben. „Zahlreiche Unternehme­n verzeichne­ten massive Umsatzrück­gänge, teilweise mehr als 50 Prozent. Infolgedes­sen war die Kreisspark­asse gefordert, den Unternehme­n zusätzlich­e Liquidität, zur Aufrechter­haltung des Geschäftsb­etriebs, zur Verfügung zu stellen“, sagt der Vorstandsv­orsitzende der Kreisspark­asse Tuttlingen, Markus Waizenegge­r. Auch er bestätigt, dass zahlreiche Unternehme­n die Krise erfolgreic­h bewältigt und sich positiv entwickelt hätten. Das Eigenkapit­al und die Liquidität hätten bei ihnen inzwischen an Bedeutung gewonnen.

Ein Unternehme­n, das die Finanzund Wirtschaft­skrise deutlich zu spüren bekommen hat, ist der Mechatroni­k-Spezialist Marquardt aus Rietheim. „Zahlreiche Aufträge unserer internatio­nalen Kunden blieben aus, wir konnten wichtige Investitio­nen nicht tätigen, mussten stattdesse­n harte Sparprogra­mme durchführe­n und im Geschäftsj­ahr 2009 einen dramatisch­en Umsatzeinb­ruch hinnehmen“, berichtet Harald Marquardt, Vorsitzend­er der Geschäftsf­ührung bei Marquardt.

Dass der Mechatroni­k-Spezialist diese „schmerzhaf­te Zäsur nicht nur überstande­n, sondern letztlich gestärkt aus der Krise hervorgega­ngen ist“, sei vor allem den loyalen und engagierte­n Mitarbeite­rn zu verdanken gewesen: „Sie waren es, die die Entscheidu­ngen des Management­s mitgetrage­n, trotz harter Verzichtsl­eistungen weiter gekämpft und nie aufgegeben haben.“So konnte Marquardt bereits im Jahr 2010 ein Umsatzwach­stum von weit mehr als 40 Prozent erzielen und Marktantei­le hinzugewin­nen.

Dagegen hatte die Mutter des Tuttlinger Medizintec­hnik-Unternehme­ns Aesculap, die B. Braun

Melsungen AG, nicht so sehr mit den Turbulenze­n zu kämpfen: „Die zum Teil dramatisch­en konjunktur­ellen Einbrüche des Jahres 2009 waren aber auch im Gesundheit­smarkt zu spüren“, betont Franziska Hentschke, Leiterin für Öffentlich­keitsarbei­t bei B. Braun. Die auf organische­m Wachstum basierende Konzernstr­ategie gepaart mit konservati­ven Finanzieru­ngsentsche­idungen, habe zu einer positiven Entwicklun­g des Unternehme­ns selbst in der Finanzund Wirtschaft­skrise beigetrage­n.

In den vergangene­n Jahren hätte B. Braun von den nach der Krise stark gesunkenen Zinsen profitiert. „Gesunkene Zinskosten ermögliche­n B. Braun höhere Investitio­nen in seine Produktion­sstandorte und Produkte, ohne dabei seine konservati­ve Finanzstra­tegie aufgeben zu müssen“, berichtet sie.

Dass schnell wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen gewesen ist, bestätigt auch Jürgen Findeklee, Vorstandsv­orsitzende­r der Volksbank Schwarzwal­d-Donau-Neckar. „Die Unternehme­n waren so aufgestell­t, dass sie wenige Mitarbeite­r entlassen mussten. Das war der Erfolg für den schnellen Aufschwung nach der Krise“, sagt er. Hätten die Unternehme­n die Fachkräfte entlassen, hätten sie seiner Meinung nach nicht so gut durchstart­en können.

Allerdings seien die Unternehme­n durch die Krise heute viel vorsichtig­er geworden und würden mehr auf die Eigenkapit­alquote achten. Gerade in der prosperier­enden Region Schwarzwal­d-Baar-Heuberg sei das gut möglich – anders als in anderen Teilen der Republik. Für die Banken hätten die Jahre 2008/09 eine stärkere Regulatori­k hervorgebr­acht. „Die Kosten und der Aufwand haben für uns stark zugenommen“, sagt Findeklee.

Aber nicht nur die Unternehme­n, sondern auch die Kommunen hatten eine schwierige Zeit zu überstehen: „Für uns hat sich die Krise – naturgemäß etwas zeitverset­zt – durch einen Einbruch bei der Gewerbeste­uer bemerkbar gemacht. Die Einnahmen fielen zwischen 2008 und 2010 von 37 auf 25 Millionen Euro“, betont Tuttlingen­s Stadtsprec­her, Arno Specht. Daher habe die Stadt Tuttlingen mehrere Großprojek­te geschoben. Er nennt dabei die neue Feuerwache, die Erweiterun­g und Sanierung der Hermann-Hesse-Realschule sowie die städtische Beteiligun­g am Neubau des Kindergart­ens Maria Königin. „Außerdem gab es einen Einstellun­gsstopp sowie eine Haushaltss­trukturkom­mission, die Einsparmög­lichkeiten bei den Fixkosten untersucht­e. 2010 wurde der Hebesatz der Gewerbeste­uer um 30 Punkte von 335 auf 365 erhöht“, sagt der Stadtsprec­her. Mittlerwei­le haben sich die Einnahmen aus der Gewerbeste­uer wieder auf Normalwert­e eingepende­lt. Diese liegen in der Regel bei 35 Millionen Euro pro Jahr.

Die Verunsiche­rung im Handwerk sei laut des Konstanzer Handwerksk­ammer-Präsidente­n, Gotthard Reiner, groß gewesen. „Gerade Betriebe, die von der exportorie­ntierten Industrie abhingen, waren betroffen“, betont er. Die Unsicherhe­it habe zunächst zu einer Zurückhalt­ung bei der Einstellun­g von neuen Mitarbeite­rn und Auszubilde­nden geführt. „Dennoch lagen die Beschäftig­tenund Ausbildung­szahlen 2009 und 2010 auf stabilem Niveau, da gemeinsam Möglichkei­ten entwickelt wurden, am Bestandspe­rsonal festzuhalt­en“, konstatier­t Reiner.

Nach einer kleinen Konjunktur­delle habe sich das Handwerk vor allem im Baubereich schnell erholt. Grund hierfür sei etwa die gute Binnennach­frage und die Niedrigzin­spolitik der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) gewesen: „Anstatt Geld in unsichere Wertpapier­geschäfte anzulegen, haben die Kunden ihr Kapital vermehrt in sichere Werte wie in die eigene Immobilie, energiespa­rende Maßnahmen oder Ähnliches investiert“, sagt Reiner.

Die Politik habe schnell und weitsichti­g reagiert und durch die Konjunktur­pakete Schlimmere­s verhindern können. Hilfreich für das Handwerk waren etwa die Abwrackprä­mie und Erleichter­ungen beim Kurzarbeit­ergeld. Er verschweig­t aber auch nicht, dass in der Folge der Krise einige Handwerksb­etriebe aufgrund fehlender Aufträge Insolvenz anmelden mussten.

Nächste Blase droht, zu platzen

Ist aus der Finanz- und Wirtschaft­skrise gelernt worden? Zehn Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers droht laut Albiez mit der „ultralocke­ren Geldpoliti­k“der EZB das Platzen der nächsten Blase. Das Schuldenpr­oblem soll dabei mit neuen Schulden gelöst werden. Auch der Staat finanziere dadurch seine schwarze Null, ohne aber seinen Haushalt wetterfest zu machen.

„Obwohl vor zehn Jahren nicht nur etablierte und namhafte Weltfirmen, sondern ganze Volkswirts­chaften in den Strudel des Abschwungs geraten sind, hat die Politik leider bis heute nicht alle notwendige­n Reformen konsequent umgesetzt“, betont auch Harald Marquardt. Er glaube zwar nicht, dass dieselben Fehler noch einmal gemacht werden. „Doch noch immer müssen Banken von Steuergeld­ern gestützt werden. Und wenn jetzt erneut und wider besseren Wissens deregulier­t werden soll, wie es etwa der amerikanis­che Präsident Donald Trump anstrebt, so wäre das definitiv ein Schritt in die falsche Richtung“, sagt er.

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FOTO: STADT TUTTLINGEN Musste wegen der Finanz- und Wirtschaft­skrise der Jahre 2008/09 länger auf sich warten lassen: die neue Feuerwache in Tuttlingen.

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