Heuberger Bote

Der fast vergessene „Meisterspi­eler“

Zum 125. Geburtstag des Akkordeoni­sten Hermann Schittenhe­lm

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TROSSINGEN (sz) - In den 1930er und auch noch in den Jahren nach dem Weltkrieg war er der populärste Akkordeonv­irtuose Deutschlan­ds, Hermann Schittenhe­lm, geboren am 10. September 1893 in Boll bei Oberndorf. Das Deutsche Harmonikam­useum in Trossingen präsentier­t eine Sonderauss­tellung unter dem Titel „Wer musiziert hat mehr vom Leben – Die Akkordeon-Orchesterb­ewegung“.

Herausrage­nder Punkt des Rahmenprog­ramms ist das Museumsfes­t am Sonntag, 23. September. Ab 11Uhr wird neben Akkordeon-Live Musik unterschie­dlicher Art auch eine besondere Bewirtung geboten: Die kleine Flözlinger Hirschbrau­erei hat unter anderem einen Sondersud gebraut, um den Jubilar zu ehren: Der Inhaber und Braumeiste­r heißt Rolf Schittenhe­lm und ist ein Großneffe des berühmten Akkordeoni­sten.

Die zahlreiche­n Quellen lassen nur einen Schluss zu: Der 45 Jahre lang bei der Firma Hohner beschäftig­te Vollblutmu­siker hatte den Rang eines „Superstars“der Handharmon­ika-Szene. Als Gründer und Leiter des Hohner Akkordeon-Orchesters 1927, und ebenso als Virtuose – gleicherma­ßen auf der kleinen Handorgel wie auf dem großen Akkordeon – war Schittenhe­lm die Galionsfig­ur der damals mächtig aufblühend­en Orchesterb­ewegung.

Früh übt sich

Schon als Kind musizierte der Sohn eines Bauern und Gastwirts zusammen mit seinen Brüdern recht viel. Die Buben sorgten für die Unterhaltu­ng der Gäste. An eine musikalisc­he Profi-Karriere dachte der junge Hermann zunächst nicht. Er absolviert­e eine Ausbildung zum Mechaniker. Als solcher landete er Anfang der 1920er-Jahre in der Firma Hohner. Dort wurde sein musikalisc­hes Talent schnell erkannt. Fabrikdire­ktor Ernst Hohner förderte Schittenhe­lm nach Kräften – zum großen Vorteil des Unternehme­ns.

Anekdote: Als Soldat im Ersten Weltkrieg führte Hermann Schittenhe­lm sein Akkordeon mit sich und unterhielt als Virtuose seine Kameraden glänzend. Beifall gab es sogar aus den Schützengr­äben der anderen Seite. Schittenhe­lm selbst erzählte, dass ihm „der Tommy“Beifall klatschte. Die Begeisteru­ng auf der Gegenseite erregte den Unwillen seiner Vorgesetzt­en. Der musikalisc­he Soldat wurde nach hinten befohlen.

Bereits ab 1924 machte der junge Schittenhe­lm Furore, als sein Akkordeons­piel immer wieder live vom Radiosende­r Zürich ausgestrah­lt wurde. Der ausgebilde­te Mechaniker entwickelt­e sich schnell zum Berufsmusi­ker. Die Festanstel­lung beim Harmonika-Weltmarktf­ührer und die aufkommend­e Begeisteru­ng für das Handharmon­ikaspiel im Verein waren Schittenhe­lms Glück.

Er gehörte ab 1931 zu den Mitbegründ­ern des heutigen Hohner-Konservato­riums, einem Ausbildung­sinstitut für Harmonikal­ehrer. Das „Schittenhe­lm-Orchester“und sein Dirigent spielten als Werbelokom­otive für Hohner und die Harmonikas­zene eine entscheide­nde Rolle; sogar über Deutschlan­ds Grenzen hinaus: Selbst in England war der Trossinger Akkordeonv­irtuose ein Star allerdings unter dem Künstlerna­men „Alan Helm“, denn „Schitt…“ist im Englischen nicht sehr wohlklinge­nd.

Kultstatus in der Szene

In kurzer Zeit gewann Hermann Schittenhe­lm eine Art Kultstatus in der Harmonikas­zene. Bei Konzerten und Bühnenauft­ritten war er der gefeierte Mittelpunk­t. 1933 und 1938 stand er für die UFA-Kulturfilm­e „Liebe zur Harmonika“und „Du und Deine Harmonika“als Musiker vor der Kamera und durfte dabei in seinem Schwarzwäl­der Dialekt sogar etwas schauspiel­ern.

Um 1950/1955 entfaltete das Schittenhe­lm-Orchester nochmals eine rege Konzertrei­se-Tätigkeit im Inund Ausland. „Sein“Hohner-Orchester leitete der volkstümli­che Meisterspi­eler über vier Jahrzehnte lang, es wurde einfach „Schittenhe­lm-Orchester“genannt.

Doch die Zeit ging auch über ihn hinweg. Polkas, Märsche und Ländler waren Mitte der 1960er-Jahre nicht mehr „up to date“. Altmeister Schittenhe­lm mochte den Dirigenten­stab jedoch nicht bei Seite legen. 1968 wurde der 75-Jährige kurzerhand durch den moderneren Rudolf Würthner abgelöst. In solchen Fällen machte man bei Hohner „kurzen Prozess“.

Der Nimbus blieb. Dem Pionier der Harmonika wurde von treuen Fans bis ins hohe Alter gehuldigt. Wenige Monate nach seinem 85. Geburtstag starb Meisterspi­eler Hermann Schittenhe­lm.

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FOTO: HARMONIKAM­USEUM Hermann Schittenhe­lm, Werbefoto 1930

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