Heuberger Bote

Als Hartz-IV-Bezieherin Schikane erlebt

Lesung von Bettina Kenter-Götte in Stiefels Buchladen zur Armutswoch­e

- Von Manuel Schust

TUTTLINGEN - Die Schauspiel­erin und Autorin Bettina Kenter-Götte hat am Freitag in Stiefels Buchladen ihr Buch „Heart’s Fear“vorgestell­t und schilderte dabei, wie sie am eigenen Leib erfahren musste, „dass Hartz IV nicht die Armut, sondern die Armen bekämpft“. Diese Veranstalt­ung war inhaltlich­e Höhepunkt der diesjährig­en Armutswoch­e in Tuttlingen.

Als Schauspiel­erin und Synchronbu­chautorin verdiente Bettina Kenter-Götte 35 Jahre lang gut. Doch als sie aufgrund einer chronische­n Erkrankung nicht mehr arbeiten kann und obendrein ihr Hauptauftr­aggeber Pleite geht, muss sie nach dem Aufbrauche­n ihrer Ersparniss­e Hartz IV beantragen. Dabei wurde sie mit einem System konfrontie­rt, das grundlegen­d darauf angelegt sei, die Beziehende­n zu schikanier­en und wahllos mit Sanktionsa­ndrohungen zu konfrontie­ren, wie sie darlegte.

Im gut besuchten Buchladen wird dem Publikum weitaus mehr als eine schlichte Lesung präsentier­t. Durch die geschickte Verknüpfun­g von Wissensver­mittlung, persönlich­em Erlebnisbe­richt und szenischen Darbietung­en gelingt es Kenter-Götte, bei ihrem Publikum einen bleibenden Eindruck zu hinterlass­en. Bei der Verlesung der Überschrif­ten ihres 67-seitigen Erstantrag­formulars fliegen effektvoll die einzelnen Bögen in hohem Bogen durch den Raum. Schon die Antragstel­lung erscheint als blanker, bürokratis­cher Irrsinn. Angesichts der vielen Angaben solle sich niemand mehr fragen, was die Beschäftig­ten im Jobcenter den ganzen Tag zu tun hätten.

Wenn Kenter-Götte in die Rolle der Schulungsl­eiterin Frau Peininger schlüpft, mag sich manch einer an die quälenden Schulstund­en bei einer strengen Lehrerin erinnert fühlen. Der markige, herablasse­nde Ton der Schulungsl­eiterin sorgt zunächst für einiges Gelächter im Publikum. Doch Frau Peininger droht nicht mit schlechten Noten, sondern mit existenzie­ll bedrohlich­en Sanktionen für jeden, der sich nicht an die willkürlic­hen Spielregel­n hält. Das Lachen verebbt daher schnell wieder. Und angesichts der mehr als 900 000 Sanktionen, die im vergangene­n Jahr gegen Erwerbslos­e in Deutschlan­d verhängt worden seien, ist der wiederkehr­ende Ernst auch angebracht. 2017 sind mehr als 34 000 Vollsankti­onen ausgesproc­hen worden.

Anderen Sprachgebr­auch gefordert

Daher plädiert Kenter-Götte auch für einen anderen Sprachgebr­auch: „Sanktionen, das klingt nach Diplomaten­sprache! Es handelt sich schlicht und ergreifend um mittelalte­rliche Leib- und Hungerstra­fen für Erwerbslos­e.“Auch diejenigen, die nicht von Sanktionen betroffen seien, fürchteten die Streichung von Geldern und erlebten ein permanente­s Gefühl der „Herzensang­st“, die lautsprach­lich so treffend im Titel ihres Buches anklingt. Niemand würde Verständni­s dafür aufbringen, wenn einem rechtskräf­tig verurteilt­en Mörder plötzlich das Essen gestrichen, Strom und Heizung abgestellt und die Medikament­e weggenomme­n würden. Doch bei Leuten, die keine Straftat begangen haben, werde dies seit Inkrafttre­ten der Hartz IV-Gesetze gesellscha­ftlich toleriert, obwohl es nicht mit dem Grundgeset­z vereinbar sei: „Es handelt sich hierbei schlicht und ergreifend um Menschenre­chtsverlet­zungen“, führt Kenter-Götte aus. Es wäre wünschensw­ert, wenn das Thema eine ähnlich große mediale Aufmerksam­keit erfahren würde, wie die #Metoo-Debatte und dabei Betroffene und nicht nur sogenannte Experten häufiger zu Wort kommen könnten. Das erklärte Ziel könne nur die komplette Abschaffun­g der ALG-IIGesetzge­bung sein, so die Autorin.

Für Bettina Kenter-Götte gab es einen Ausweg aus der Abwärtsspi­rale Hartz IV: Nur weil sie gesund geworden sei, wieder arbeiten konnte und 2015 geheiratet hat, gelang ihr der Absprung. Doch dabei sei sie nur die übliche Ausnahme der Regel, sagte sie.

 ?? FOTO: MANUEL SCHUST ?? Autorin Kenter-Götte (rechts) in Stiefels Buchladen. Links im Bild ist Doris Mehren-Greuter von der AWO-Wohnungslo­senhilfe in Tuttlingen.
FOTO: MANUEL SCHUST Autorin Kenter-Götte (rechts) in Stiefels Buchladen. Links im Bild ist Doris Mehren-Greuter von der AWO-Wohnungslo­senhilfe in Tuttlingen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany