Steinwüste oder Gärten – Wie viel Grün braucht Spaichingen?
Grün verschwindet aus dem Spaichinger Stadtgebiet immer mehr. Das mulmige Gefühl, das vielen Spaichingern seit einigen Jahren zu schaffen macht, lässt sich auch in Zahlen festmachen: Spaichingen ist tatsächlich die Gemeinde im Landkreis Tuttlingen, die den höchsten prozentualen Anteil an Siedlungsund Verkehrsfläche hat.
Hinzu kommt, dass sich in immer mehr Wohngebieten um die Privathäuser Schotter, Pflaster und Steingärten durchsetzen und wenn Grün, dann beschränkt sich das auf intensiv gepflegte, kurz gehaltene Rasenflächen. Womöglich auch noch mit Mähroboter in Schach gehalten, die jedes vorwitzige Gänseblümchen oder jeden unvorsichtigen Käfer köpfen. „Sterilomanie“nennt der Referent für Artenund Biotopschutz des Naturschutzbundes BadenWürttemberg, Martin Klatt, diese Tendenz, als „aufgeräumt und ordentlich“zu empfinden, was eigentlich tot oder zumindest steril ist. Ob es eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur ist, eine bestimmte Vorstellung davon, was Ordnung ist oder auch eine spezielle Vorstellung von Fortschritt und Wohlstand – ihm ist keine Studie bekannt, die diese Zusammenhänge erforscht hat. Er vermutet aber etwas anderes: „Je mehr die Menschen urbanisiert (also in Städten und dichten Siedlungsgebieten) leben, desto mehr entfremden sie sich von der Natur.“Und desto mehr nimmt die Verantwortung für unsere Lebensgrundlagen ab. Die Vorstellung von „Sauber, proper, ordentlich“weite sich sogar auf die Ränder von landwirtschaftlichen Flächen, Straßenränder, Grünstreifen aus, die gemulcht - und damit die natürlichen Pflanzen erstickt werden, wenn nicht ganz unter Stein verschwinden. Dass Insekten in ganz großem Maß (70 Prozent sind mancherorts nachgewiesen) verschwinden, hat riesige Konsequenzen. Was viele nicht wissen: Viele Insekten, gerade Wildbienen, von denen es in Deutschland rund 580 Arten, in Baden-Württemberg mindestens 460 gibt, sind häufig auf ganz wenige Blumenarten spezialisiert und haben oft nur einen Flugradius von wenigen hundert Metern, so der Fachmann. Sprich: Jede natürliche Fläche im Stadtgebiet, jeder naturnahe Garten, jede naturnah gestaltete Außenbereich einer Firma dient der Vernetzung der Lebensräume und damit dem Überleben der Insektenarten. In einer für Spaichingen einzigartigen Aktion haben sich die mit der Natur verbundenen Spaichinger Vereine BUND, NABU, Schwäbischer Albverein, Obst- und Gartenbauverein sowie die Gartenfreunde in einem offenen Brief an die Stadt gewandt, mit der Bitte, sich für die naturnah umzugestaltende Stadt bei einem vom Land geförderten Programm „Naturnah dran“zu bewerben. Der jüngst nach schwerster Krankheit plötzlich verstorbene BUND-Vorsitzende Beat Dorsch hatte Ende August noch von Bürgermeister Schuhmacher mitgeteilt bekommen, die Stadt werde sich bewerben. Im Gemeinderat besprochen wurde das Thema nicht. Zurück zum Ausgangspunkt: Grün in Verkehrsinseln und Baumscheiben im Stadtgebiet durch Schotterflächen zu ersetzen, spart wenigstens Geld. Stimmt das? Ein Blick in die Haushaltspläne 2009 und 2018 zeigt: Nein. Im Haushalt 2009 waren zwar 25 000 Euro für Grünflächen eingeplant und 2018 1500, aber für Pflege und Unterhalt von Bäumen waren 2009 nur 12500 Euro eingeplant, in diesem Jahr aber 53 000 Euro. Also: Heute kostet die Grünpflege 30 500 Euro mehr. Eingespart wurden lediglich 3000 Euro an Entschädigungen für Patenschaften.
„Je mehr der Mensch urbanisiert lebt, desto mehr entfremdet er sich von der Natur.“