Balinger Straße: Hindernisse missfallen
Achse soll für Autos unattraktiv gemacht werden – Diskussion im Technischen Ausschuss
- Wie stark soll die Balinger Straße verkehrsberuhigt werden und wie viele Hindernisse eingebaut werden, damit die Strecke für Autofahrer unattraktiv wird: Über diese Fragen ist in der jüngsten Sitzung des Technischen Ausschusses heftig diskutiert worden. Längst nicht alle waren mit den geplanten Maßnahmen der Stadtverwaltung einverstanden, was sich auch in der Abstimmung niederschlug. Am Montag, 19. November, wird das Thema erneut im Gemeinderat behandelt.
Der Plan sieht vor, die Balinger Straße an mehreren Stellen zu verengen – an den Bushaltestellen gar so, dass die Straße dort nur noch einspurig ist. Nach diesen Maßgaben ist in den vergangenen Wochen bereits die Bushaltestelle an der Plettenbergstraße umgebaut worden. Im Bereich Risiberg-/Plettenbergstraße soll zudem mit einem Mini-Kreisel ein weiteres Hindernis eingebaut werden. Hintergrund ist, dass durch das Neubaugebiet Thiergarten nicht noch mehr Verkehr auf der Straße entsteht.
„Zu viel des Guten“
Mit den Maßnahmen überhaupt nicht einverstanden waren vor allem die Räte der CDU. Als „zu viel des Guten“und „Belastung“stufte Joachim Klüppel die „sieben Verengungen auf knapp 1000 Meter Länge“ein. „Es ist ein Unding, wenn ein Bus hält und in beide Richtungen geht nichts mehr“, sagte Franz Schilling zur geplanten Einengung der Fahrbahn im Bereich der Bushaltestellen.
„Meines Erachtens sind das nicht die richtigen Maßnahmen“, kritisierte auch Gesine Barthel-Wottke (FDP). Statt langsam fließenden Verkehr zu erzielen, würden die geplanten Maßnahmen in erster Linie einen „Stop and Go-Verkehr“mit sich bringen. Ihrer Meinung nach reiche es, wenn der geplante Quartiersplatz im Neubaugebiet die Balinger Straße in Richtung Rußbergstraße unterbreche. Und Hellmut Dinkelaker (SPD) fragte sich: „Führen die Einengungen durch das ständige Bremsen und Wieder-Anfahren nicht eher zu mehr Unruhe?“
Kritik äußerten die Räte auch im Hinblick auf den Radverkehr. Hürden in die Balinger Straße einzubauen, sei kontraproduktiv zum Vorhaben, die Menschen aufs Fahrrad zu bringen, sagte Bathel-Wottke. „An den Engstellen werden die Radfahrer gefährdet.“Henner Lamm (SPD) missfiel, dass die Planungen den Radverkehr nicht berücksichtigen, obwohl man die Balinger Straße als Haupt-Radachse definiert habe. „Das kommt hier überhaupt nicht vor“, sagte er.
Die Stadt Tuttlingen verteidigte ihre Pläne mit Verweis auf die mehrfach stattgefundenen Bürgerversammlungen und -gespräche. „Weniger Verkehr in der Balinger Straße: Das ist eine Forderung der Bürger“, stellte Oberbürgermeister Michael Beck klar. Ziel sei es, durch den Einbau der Hindernisse die Straße möglichst unattraktiv für Autofahrer zu machen. Rückendeckung bekam er von der LBU. Man wolle diese Verkehrsberuhigung doch schon lange, „ich verstehe diese Diskussion jetzt nicht“, sagte Ulrike Martin.
Jeweils mehrere Nein-Stimmen
Bei der Abstimmung lehnten die Räte die Fahrbahn-Einengung an den zwei weiteren Bushaltestellen Altwegen und Egerstraße ab. Den anderen Maßnahmen – Straßeneinengungen und Minikreisel – wurde im Technischen Ausschuss mehrheitlich zugestimmt, auch wenn es jeweils mehrere Nein-Stimmen gab.
Dass die Stadt die Straße an der Bushaltestelle Plettenbergstraße noch vor den anderen Maßnahmen umgebaut hat, liegt an einer Anwohnerbeschwerde. Wie Stadtsprecher Arno Specht auf Nachfrage unserer Zeitung sagte, hatte sich der Anwohner beschwert, dass die Haltestelle nicht barrierefrei sei. Das ist zunächst einmal das Ergebnis einer starken Wirtschaftskraft. Dramatisch ist, dass so viele Pendler mit dem Auto zur Arbeit fahren.
Glauben Sie, dass es möglich ist, einen Großteil zum Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu bewegen?
Nicht alle, aber so viel wie möglich, und nicht nur auf den ÖPNV. Der Fußverkehr wird total unterschätzt, besonders viel leisten kann auch der Radverkehr. Rund 80 Prozent aller Haushalte in Deutschland besitzt ein Rad. Ob die Menschen im Alltag auf ihren Rädern sitzen oder nicht, hängt entscheidend von der örtlichen Verkehrsplanung ab.
Außer dem Ausbau des Radwegenetzes – was gehört da noch dazu?
Bei den Radwegen denken viele sofort an den Umbau von Straßen. Die Verantwortlichen in den Rathäusern können aber viel schneller reagieren, wenn sie im Straßennetz von Tempo-30-Zonen Fahrbahnen zu Fahrradstraßen erklären, in denen Radfahrer bequem nebeneinander radeln können und Autos nur noch als Gäste zugelassen sind. Wenn das in Tuttlingen 200 Mal gemacht wird, dann gibt es ein attraktives Velorouten-Netz. Und man kann den Menschen die Angst vor dem angeblich gefährlichen Radverkehr auf den Hauptverkehrsstraßen nehmen. Man bekommt ängstliche Menschen nur aufs Rad, wenn man ihnen sichere Verbindungen anbietet.
Dennoch: Nicht jeder wird bereit sein, sein Auto stehen zu lassen.
Irgendwann werden fast alle Leute klug. Der Mensch ist so gebaut, dass er Bewegung braucht. Wenn man wegen des Autos immobil geworden ist und sich kaum noch aktiv bewegt, dann ist das dramatisch. Mobilität mit aktiver Bewegung und nicht nur im Fitnessstudio ist eine gesundheitspolitische Notwendigkeit. Es ist ein Drama, wenn ganze Generationen mit Bewegungsmangel groß werden, weil sie im Elterntaxi befördert werden
Was ist aus Ihrer Sicht zumutbar für Pendler an zusätzlichem Zeitauf- wand beim Verzicht auf das Auto?
Es geht gar nicht nur um die absolute Reisezeit. Die Nutzungszeit von Bus und Bahn ist auch gewonnene Zeit. Man kann Zeitung lesen oder arbeiten während der Fahrt. Der entscheidende Faktor ist die Entfernung zur nächsten Bushaltestelle oder zum Bahnhof. Viele, die seit Jahren im Auto sitzen, denken nicht daran, dass eine Kombination aus Rad und ÖPNV sehr effizient ist. Nimmt man ein Faltfahrrad mit in Bus und Bahn, spart man viel Zeit am Start- oder Zielpunkt. Entscheidend ist, wo man lebt. Wer in dörflicher Umgebung wohnt, hat es mit dem ÖPNV deutlich schwieriger.
Welche Vorschläge haben Sie außerdem für Tuttlingen parat?
Auch die Betriebe sind gefordert, gerade in Tuttlingen mit den vielen mittleren und großen Wirtschaftsunternehmen. Mit Mobilitätsmanagement können sie helfen, Verkehrsprobleme zu lösen.
Wie könnte das aussehen?
Indem es günstige Jobtickets für Mitarbeiter gibt. Aber auch Kleiderspinde und Duschen am Arbeitsplatz für Radfahrer sind nötig, damit man sich frisch machen kann, wenn man lange Wege zur Arbeitsstätte radelt. Es geht weiter mit dem Jobrad. Mit Fahrradleasing können Betriebe ihren Mitarbeitern alle fünf Jahre ein neues Rad zur Verfügung stellen. Das wissen vie- le aber nicht. Ganz wichtig ist auch, die Mitarbeiter beim Bilden von flexiblen Fahrgemeinschaften zu unterstützen. Viele Arbeitnehmer haben flexible und unregelmäßige Arbeitszeiten oder schaffen im Schichtsystem. Da braucht man im Grunde eine internetbasierte App, die flexibel Angebot und Nachfrage bündelt. Da gerade Tuttlingen viele Hightech-Unternehmen hat, ist es ein Gebot der Zeit, sich darum zu kümmern.
Ursache des Tuttlinger Verkehrsproblems sind aber nicht nur die Pendler.
Das stimmt. Es gibt sehr viel Binnenverkehr. Im Schnitt unternimmt jeder Tuttlinger täglich 2,7 Autofahrten, darunter ganz viele Kurzstrecken. Ein Drittel der Fahrten in der Region liegen unter drei Kilometern. Das ist ein hausgemachtes Problem. Deshalb muss die Verkehrsplanung in Tuttlingen mehr Platz und Attraktivität in die Aktivmobilität setzen: Gehen und Radfahren.
Wie wird sich aus Ihrer Sicht der Verkehr in zehn Jahren in Tuttlingen darstellen? Wie wird der Anteil an E-Autos sein?
Wir müssen weg vom Diesel, auch bei den Bussen. Und bei der Bahn muss in Elektrotriebwagen investiert werden, erst danach kommt das E-Auto. Dort ist die Dynamik noch nicht sehr groß. Das wird sich ändern, auch bedingt durch den Diesel-Gate. Die große Hoffnung, mit E-Autos alle Probleme zu lösen, habe ich aber nicht. Sie helfen nur bei den Emissionen, nicht bei den Platzproblemen und nicht im Stau.
Werden die Parkplätze, die in Tuttlingen gerade zusätzlich geschaffen werden, in einigen Jahren überhaupt noch gebraucht?
Nein, wir werden künftig weniger Autos haben und sie seltener und intelligenter nutzen. Gerade ist die Studie Mobiles Baden-Württemberg veröffentlicht worden, die aufzeigt, dass wir den Autoverkehr auf Dauer halbieren werden. Trotzdem nimmt der Bundesverkehrswegeplan keine Notiz vom Klimawandel. Er plant riesige Straßenprojekte, auch beim Parken wird vielfach die Kapazität erweitert. Das muss aufhören. Wir müssen uns allmählich daran gewöhnen, dass sich auf unseren Straßen wieder viel mehr Radfahrer und Fußgänger bewegen. Und dass der öffentliche Raum auch wichtig ist zum Stehen und Sitzen, also zum „Parken“von Fußgängern.
Würden Sie kostenlosen ÖPNV befürworten?
Nicht wirklich kostenlos, denn kosten wird er ja immer was. Ein Bürgerticket halte ich aber für eine sehr sinnvolle Lösung. Das ist im Grunde eine Flatrate für ein halbes oder ein ganzes Jahr zur Nutzung des ÖPNV mit einer hohen Rabattierung wie bei den Semestertickets. Momentan ist der Rabatt für Monatstickets völlig unzureichend, und zudem ist alles viel zu kompliziert. Das ist auch der Hauptgrund, warum wenige Menschen Bus und Bahn nutzen: Weil sie Angst haben, die falsche Fahrkarte zu ziehen und dann als Schwarzfahrer beschuldigt zu werden. Mit einem Bürgerticket wären wir auf einen Schlag viele Probleme los.
Haben Sie ein Auto?
Nein, seit 40 Jahren nicht mehr. Und ich fahre trotzdem für meine vielen Termine kreuz und quer durch Deutschland, mit Bus, Bahn und Fahrrad. Ich habe gar keine Zeit zum Autofahren. Damals waren meine Kinder noch klein und mussten sich oft beim Autofahren übergeben. So, wie es vielen kleinen Kindern beim Autofahren schlecht wird. Das ist doch ein untrügliches Zeichen.