Gigantischer Lohndiebstahl
Jeder zweite Arbeitnehmer will eigentlich kürzertreten, stattdessen häufen die Beschäftigten massenhaft Überstunden an – oft genug unbezahlt
- Wunsch und Wirklichkeit klaffen selten so extrem auseinander wie in der deutschen Arbeitswelt: Während sich jeder zweite Erwerbstätige wünscht, weniger zu arbeiten – im Schnitt vier Stunden –, haben eben diese Arbeitnehmer im vergangenen Jahr 2,1 Milliarden Überstunden angehäuft. Erstes geht aus einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz hervor, zweites aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Erschwerend kommt hinzu: Nur die Hälfte der Mehrarbeit wird tatsächlich vergütet. Rund eine Milliarde Überstunden blieb 2017 unbezahlt.
Im Vergleich zu 2016 haben die Überstunden damit um knapp 13 Prozent zugenommen. Noch mehr Überstunden hatten die Deutschen zuletzt im Jahr 2007. Die Daten stammen vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
DGB-Chef Reiner Hoffmann warnte vor einem hohen gesundheitlichen Risiko für die Beschäftigten. Angesichts der vielen unbezahlten Überstunden sprach er von „Lohndiebstahl“. Die Linken-Arbeitsmarktpolitikerin Jessica Tatti bezeichnete die aktuellen Zahlen als „skandalös“. Sie zeigten, dass sich viele Arbeitgeber auf dem Rücken ihrer Beschäftigten bereicherten, so Tatti. Für Unternehmen zahle sich das aus. Allein im Jahr 2017 hätten sie über 36 Milliarden Euro gespart, weil die Beschäftigten Überstunden zum Nulltarif geleistet hätten.
Was auch aus der Anfrage hervorgeht: Jeder Fünfte in Deutschland arbeitete im vergangenen Jahr unterhalb der Niedriglohnschwelle. Das sind weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns. Bei den Frauen liegt sogar jede Vierte unter dieser Schwelle.
Kritik kam deshalb auch von der Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele: „Es darf nicht sein, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind und nicht in gesicherten Verhältnissen leben können“, sagte sie. Bentele forderte einen Mindestlohn von mehr als zwölf Euro in der Stunde.
Unzufrieden mit Überstunden
Dabei zeigt die Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz: Je mehr Überstunden Arbeitnehmer leisten, desto größer ist der Wunsch, früher Feierabend zu machen. Bei Beschäftigten, die nur zwei Überstunden pro Woche machen, wollen nur 38 Prozent der Befragten ihre Arbeitszeit reduzieren. Bei denen, die mehr als zehn Überstunden pro Woche schieben, steigt der Anteil auf 71 Prozent.