Als Arbeiter den Wachtmeister bedrängten
Vor 100 Jahren ist es in Trossingen zu revolutionären Unruhen gekommen
- „Allein die Tatsache, daß in Trossingen seit Bestehen der Industrie (…) niemals ein Streik stattgefunden (hat), zeigt, dass das gegenseitige Vertrauen auch in schwierigen Zeiten nie verloren gegangen ist.“Was der damalige DHV-Präsident Josef Zepf 1956/57 im Vorfeld der Hundertjahrfeier Hohners niederschrieb, war absolut falsch: In den Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs kam es in der Trossinger Industrie mehrfach zu Arbeitsniederlegungen und Streiks. Der revolutionäre Umbruch kam zwar mit einiger Verspätung im abgelegenen Industriedorf auf der Baar an, doch im Frühjahr 1919 kam er mit Macht.
Zunächst war im Spätherbst 1918 von der Umwälzung der Verhältnisse im Deutschen Reich auf der Baar wenig zu spüren. Zwar kam es mehrfach zu großen öffentlichen Versammlungen, zu denen SPD, dann auch Gewerkschaften und fortschrittliche bürgerliche DDP (Deutsche Demokratische Partei) einluden. Gleichwohl: Es blieb noch ruhig; auch weil heimkehrende Soldaten in den hiesigen Fabriken gleich wieder beschäftigt wurden.
Die kleine örtliche SPD verfügte über einen fähigen Funktionär namens Paul Kratt, der – zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Bauernrats gewählt - im Frühjahr 1919 eine wichtige Rolle spielen sollte. Anfang 1919 erreichten Ausläufer der reichsweiten Massenstreiks auch die kleineren Städte unserer Region. Dort (in Schwenningen und Tuttlingen) errangen die Gewerkschaften neue Tarifverträge, die höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen festlegten.
Doch immer noch blieben die Trossinger Fabrikanten stur. Vor genau 100 Jahren antworteten sie auf das Schreiben eines Gewerkschaftsvertreters brüsk, sie würden auch künftig auf ihrem guten Recht beharren, „Lohn- und Arbeiterfragen nur in direktem Einvernehmen mit ihrer Arbeiterschaft zu regeln“(Brief vom 10. Februar 1919 an den Dt. Metallarbeiter-Verband, Verwaltungsstelle Schwenningen). Nun gärte es in Trossingen erst recht. Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten regen Zulauf. Das siegreiche Ende des Tuttlinger Metallerstreiks Anfang März 1919 wirkte dann offenbar als Fanal.
Bürgermeister vermittelt
Die eigentliche „Revolution“in Trossingen bildeten die Streiks Mitte März 1919. Zu diesem Wendepunkt der Sozialgeschichte existiert eine aussagekräftige Quelle: das Protokoll der Schlichtungsversammlung vom 20. März 1919. Der Trossinger Schultheiß Ernst Haller nahm bei den Unruhen im März 1919 eine kluge vermittelnde Position ein. Bei der Schlichtungsversammlung führte er den Vorsitz und schilderte zunächst die Geschehnisse.
Demnach bedrängten am 18. März 1918 etwa 30 Arbeiter den Wachtmeister auf der Polizeiwache im Rathaus und lösten schließlich selbst die Alarmsirene aus. Hierauf strömten die Arbeiter aus den Fabriken, zogen in einem großen Demonstrationszug, „dem verschiedene tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen angehörten“, durch den Ort und versammelten sich in der Rosenschulturnhalle. Währenddessen verhandelte der „Arbeiter- und Bauernrat“auf dem Rathaus mit Schultheiß Haller.
Dieser versprach, sich für eine Schlichtungsversammlung einzusetzen und wirkte beruhigend auf die erregte Menge in der Turnhalle ein. Es gelang ihm so gut, dass am 19. März tatsächlich normal gearbeitet wurde, da ja für den Folgetag die Schlichtung festgesetzt war.
Bei der zentralen Schlichtung am 20. März 1919 in der RosenschulTurnhalle brachte Schultheiß Haller den Konflikt auf den Punkt: „Auf der einen Seite steht eine Industrie mit Weltgeltung und Weltbedeutung“, die Wohlstand für die ganze Region gebracht habe. „Auf der anderen Seite steht eine Arbeiterschaft, erfüllt von dem Drang nach Freiheit und zeitgemäßer Entlohnung.“