Südseegefühle auf einer Ostseeinsel
Auf Fehmarn lassen sich noch heute viele Motive des „Brücke“-Künstlers Ernst Ludwig Kirchner entdecken
Mehr als ein Zehntel seines Werkes hat der „Brücke“Künstler Ernst Ludwig Kirchner zwischen 1908 und 1914 auf der Ostseeinsel Fehmarn gemalt. Der Expressionist fand hier sein „irdisches Paradies“von Südseereichtum. Noch heute lassen sich vielerorts Kirchners Motive entdecken. Eine Spurensuche.
Junge Schwalben flitzen um Apfelbäume herum, während das Ostseewasser an all die dicken runden Steine am Strand platscht. Blau ist der Himmel. Weiß die Gischt. Sonnengelb sind die Turnschuhe von Imke Ehlers. Zwischen Brennnesseln und Baumwurzeln eilt sie in kurzen Hosen einen Trampelpfad an der Steilküste hinauf. „Zutritt nicht gestattet“, ist auf einem Schild zu lesen. Doch Ehlers klettert über ein Metalltor auf das Privatgelände des Leuchtturms Staberhuk. Die promovierte Kunsthistorikerin darf das – denn der Ort am südöstlichsten Zipfel Fehmarns ist bedeutsames Kulturerbe.
Freiheit und Natürlichkeit
Hier, am backsteinernen Leuchtfeuer, verbrachte der Maler Ernst Ludwig Kirchner zwischen 1912 und 1914 viele Sommermonate: schwelgend – und wie besessen schaffend – in Freiheit und Natürlichkeit. Ehlers ist als zweite Vorsitzende des Ernst Ludwig Kirchner Vereins Fehmarn so etwas wie die Botschafterin dieses InselKulturguts. Mit der Lizenz zum Über-Zäune-Steigen.
Noch heute ist auf Fehmarn alles ein wenig ursprünglicher als auf anderen deutschen Inseln. Weniger mondän sind die Häuser, weniger geleckt die Promenaden, weniger akkurat die Fahrradwege. Weniger aufdringlich ist der Tourismus, weniger inszeniert die Natur. Am Tag husten die Mähdrescher beim Abräumen der Kornfelder staubige Wolken in die Sommerluft. Am Abend zeigen die Traktoren mit ihren monströsen Anhängern im Hafen von Burgstaaken ihre reiche Ernte: Vor den Silos der Getreidehändler stehen sie auf dem Kopfsteinpflaster Schlange; jährlich exportieren die Insel-Bauern rund 60 000 Tonnen Getreide. Nebenan, in den Restaurants, Cafés und Kneipen am Hafen, treffen sich derweil die Urlauber zur Fischpfanne. In der Hauptsaison gesellen sich zu den 12 000 Einwohnern mitunter rund 110 000 Feriengäste – ein abgelegenes, stilles Plätzchen ist auf der 185 Quadratkilometer großen Insel dennoch leicht zu finden. Wer eine entspannte Kombination aus Landund Strandwirtschaft sucht, der ist auf Schleswig-Holsteins einziger Ostseeinsel genau richtig.
Wie einst Kirchner. „An dieser einsamen Küste hier malte er mehr als 120 Bilder“, sagt Kunsthistorikerin Ehlers. „Das waren die wohl glücklichsten Jahre seines Lebens.“Und seine produktivsten: Allein von den 20 000 Zeichnungen, die der Mitbegründer der Künstlergruppe „Die Brücke“hinterlassen hat, sind Hunderte auf Fehmarn entstanden. Eines seiner Hauptwerke, das großformatige Ölgemälde „Ins Meer Schreitende“, hat Kirchner hier, nahe dem Leuchtturm Staberhuk, gemalt. Es zeigt in intensiven Farben ein nacktes Paar, das Hand in Hand in die Wellen steigt. Im Hintergrund: die grün bewachsene Steilküste der Ostseeinsel. Und der Leuchtturm.
Der Backsteinturm ist eines seiner wiederkehrenden Motive. Kein Wunder: Hier draußen, wo nur das Meer rauscht und sonst Stille über den Feldern liegt, zelebrierte der Expressionist himmlische Sommer in der Abgeschiedenheit. Bei der Familie des Leuchtturmwärters ErnstFriedrich Lüthmann lebte Kirchner wochenlang. Er kam im Mai, wenn der Raps die Insel leuchtendgelb färbt und die Kartoffeln gesetzt werden. Er fuhr im späten Herbst, wenn die Stürme tosen und die Landwirte ihr Korn eingelagert haben. Die Insellandschaft mit ihren Feldern, Wäldchen und Stränden war für Kirchner Arkadien, sein „irdisches Paradies“mit „wundervoller Küstenbildung, manchmal von Südseereichtum“, wie er notierte. Wie der junge Künstler 1908 ausgerechnet auf die Idee kam, nach Fehmarn zu reisen? „Das ist uns bis heute ein Rätsel“, sagt die Kunsthistorikerin Ehlers. Sie ist selbst gebürtige Fehmaranerin, hat die Grundschule in der Inselhauptstadt Burg besucht und kennt seither jeden Schleichweg. Dank ihrer kunstsinnigen Eltern kam sie um Kirchner auf Fehmarn „nicht umhin“, wie sie sagt. Der Expressionist und seine vor Energie strotzenden, farbigen Inselbilder, seine Akte und abstrahierten Zeichnungen haben sie gepackt. Und nun packt sie an: als Kuratorin der Sommerausstellung des Kirchner-Vereins, als eloquenter Guide im Ausstellungsraum, als Ansprechpartnerin mit enormer Kirchner-Expertise.
Mexiko kurz vor Dänemark
Auch der wohl versteckteste Aussichtspunkt der Insel offenbart ein Kirchner-Geheimnis: „Das da drüben ist das Motiv von Kirchners Mexikobucht“, sagt die Kunsthistorikerin. Mexiko – so kurz vor Dänemark?! Ehlers zückt ihr Smartphone und fotografiert die Küste mit den im Wind schunkelnden Stockrosen. Mit leuchtenden Violett-, Rosa- und Türkistönen hat der Maler die Steilküste Fehmarns in die Subtropen verlegt. Hat Palmwedel hinzu fabuliert, die Ostsee zur Südsee stilisiert. Denn so fühlte sie sich für ihn an: frei und fremd. Tatsächlich strahlen hier nur die Stockrosen gelb und rosafarben. Unten am Meer verschnauft ein Kormoran auf einem der dicken runden Steine. Einst ruhte an ihnen der nackte Po von Aktmodell Erna Schilling, die für Kirchner hier posierte.
Darum, dass all die Spuren des Malers auf der Insel erhalten bleiben, kümmert sich seit nunmehr 25 Jahren der Ernst Ludwig Kirchner Verein Fehmarn. Und für dieses Ziel ist Imke Ehlers bereit, noch über so manchen Zaun zu klettern.