Die Abkehr von der Kirche setzt sich fort
157 Austritte in der Stadt Tuttlingen – Dekane sehen es als schmerzhafte Entwicklung an – Missbrauchsskandal spielt eine Rolle
- Im ersten Quartal 2019 sind in Tuttlingen 48 Menschen aus der Kirche ausgetreten. Die Zahlen des Standesamts beziehen sich auf beide Konfessionen, evangelisch wie katholisch. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt 157 Austritte. Damit setzen sich die Abkehrtendenzen der vergangenen Jahre fort – allerdings leicht verstärkt durch negative Schlagzeilen. Bei den Katholiken war es erneut der Missbrauchsskandal, bei den Protestanten die gespaltene Haltung im Umgang mit Gleichgeschlechtlichen, die für einige Austritte sorgten, glauben die beiden Tuttlinger Dekane.
Jeder, der aus der Kirche austritt, bekommt einen Brief, sagt der katholische Dekan und Gemeindepfarrer Matthias Koschar. „Von Hundert, die wir anschreiben, melden sich vielleicht zehn Prozent zurück. Einer davon sucht das persönliche Gespräch.“Die Gründe, die aufgeführt würden, seien vielfältig: Ich glaube nicht mehr an Gott, will keine Kirchensteuer mehr bezahlen, die Kirche sei veraltet und erreicht mich nicht mehr – „und jetzt die aktuellen Missbrauchszahlen“, nennt Koschar als Auslöser für einen Anstieg derer, die der Kirche den Rücken kehren würden. In den beiden Tuttlinger Kirchengemeinden Maria Königin und Sankt Gallus waren es 2018 92 Menschen, die diesen Schritt gingen – rund 1,12 Prozent der Gemeindemitglieder.
„Nicht ernst genommen gefühlt“
Heike R. ist eine von ihnen. Ihren vollständigen Namen will die Tuttlingerin nicht in der Zeitung wissen. Wohl aber ihre Beweggründe darlegen: „Mir hat es jetzt einfach gereicht“, sagt die Katholikin. Der aus ihrer Sicht unhaltbare und unprofessionelle Umgang mit den Missbrauchsvorwürfen und -opfern sowie die Tatsache, dass sie als Frau in der katholischen Kirche nicht ernst genommen und nicht gleichberechtigt sei: „Das muss ich mir nicht mehr geben.“
Wäre eine Reform der Rolle der Frau in der Kirche und der Zugang zum Priesteramt also eine Möglichkeit, die Gläubigen zu halten? „Wenn äußere Strukturreformen das aufheben würden, wäre ich sofort dafür“, sagt Koschar, glaubt das aber nicht. Sondern: „Ich denke, ein langer Weg der Entfremdung geht dem Austritt voraus.“
Der Kontakt zur Kirche und der Gemeinde werde nicht mehr gehalten, Zerrbilder darüber, was kirchliches Wesen und die Verkündung ausmachten, seien vorhanden. Im übrigen habe er noch nicht erlebt, dass jemand aus der Gemeinde lautstark gefordert habe, wenn die Pfarrer jetzt nicht heiraten dürfen, dann trete er aus der Kirche aus. Dagegen spreche auch, dass die evangelische Kirche – bundesweit – mit ähnlichen Austrittszahlen zu kämpfen habe.
Auch in Tuttlingen: Um knapp 0,9 Prozent ging die Gemeindezahl in der evangelischen Gesamtkirche innerhalb eines Jahres durch Austritte zurück: „Wir kämpfen seit vielen Jahren damit“, sagt der evangelische Dekan Sebastian Berghaus. „Das ist äußerst schmerzhaft, denn wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass ein gewisser Bedeutungsverlust der Kirche vorliegt.“Deshalb versuchten er und die Gemeindepfarrer die Menschen einzuladen, sich am Gemeindeleben zu beteiligen und sie so zu binden. „Im Grunde geht es entweder darum, dass eine Entfremdung vorliegt oder man erfährt eine persönliche Kränkung“, sieht Berghaus als Ursache für die Austritte. Viele Mitglieder habe der Umgang der evangelischen Kirche mit gleichgeschlechtlichen Menschen enttäuscht. „Mich auch“, bekennt der Dekan. Er kämpfe für eine Gleichbehandlung Homosexueller – als Mensch wie als Christ. Gemerkt hat er aber auch, dass bei der Begründung für eine Abkehr nicht zwischen den Schlagzeilen über die katholische und evangelische Kirche unterschieden werde.
Kirchensteuer steigt stark an
Die Kirchensteuer im Kreis Tuttlingen ist 2018 auf knapp 36 Millionen Euro gestiegen. Das sind fünf Millionen Euro mehr als im Vorjahr, wie Finanzamts-Leiter Michael Schwegler bei der Vorstellung der Bilanz sagte – ein neuer Rekord. Heißt das, dass mit Ausnahme Tuttlingens alle anderen Gemeinden im Kreis einen Zulauf erfahren? Nein. Im Gegenteil: Die Kirchen haben zusätzlich auch noch mit dem demografischen Wandel zu kämpfen, viele Mitglieder sterben einfach weg. Die hohe Kirchensteuer ist dagegen das Ergebnis von mehr Beschäftigung und steigenden Löhnen in einem boomenden Landkreis.
Eine Arbeitsgruppe oder einen Arbeitskreis zum Thema Austritte unterhalten die Kirchen in Tuttlingen nicht. Aber für Ausgetretene gilt: „Wir hören nicht auf, missionarische Kirche zu sein und behandeln sie mit großem Respekt und nicht anders als die Mitglieder“, sagt der evangelische Dekan. Dieses Angebot würden auch viele in Anspruch nehmen, „als Sympathisanten, als Freunde“. Gerade die Teilnahme an Gottesdiensten wie Taufen, Trauungen, Beerdigungen und Schulgottesdiensten sei hoch nachgefragt: „Da nimmt die Aufmerksamkeit stetig zu.“
Auch die katholische Gemeinde hält die Einladungen zu Gottesdiensten und Festen für alle offen: „Kirche sind wir alle miteinander, eine Gemeinschaft“, sagt Koschar. Im übrigen kenne die katholische Kirche keinen Austritt aus der Glaubensgemeinschaft, da eine Taufe nicht rückgängig gemacht werden könne.