Heuberger Bote

„Vor 30 Jahren war die Bedrohung viel größer als heute“

Theo Waigel ist Optimist in Sachen Europa – Der ehemalige Finanzmini­ster setzt auf den Zusammenha­lt der vernünftig­en Kräfte

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- Der Heimatort von Theo Waigel ist ein schmucklos­es Dorf in Bayerisch-Schwaben. Fast ein wenig trostlos sieht es hier aus im Aprilniese­lregen. München mit seiner Pracht und auch die außerbayer­ischen Metropolen dieser Erde scheinen ganz weit weg zu sein. Doch der CSU-Politiker hat das Weltgesche­hen im Blick, und es treibt ihn nach wie vor um, was in Berlin, Brüssel, London, Washington oder Moskau passiert. Am 22. April wird Waigel 80 Jahre alt. Der frühere Finanzmini­ster, der als Namensgebe­r für den Euro gilt, blickt zurück auf Jahrzehnte als Berufspoli­tiker. Und er verteidigt mit Leidenscha­ft die Europäisch­e Union, die sehr viel besser sei als ihr Ruf. „Es gibt außerhalb von Europa keinen Ort, an dem Liberalitä­t, Toleranz, Kultur, die Gleichbere­chtigung von Frauen, die Rücksicht auf Kranke und Behinderte einen so hohen Stellenwer­t haben wie innerhalb der Europäisch­en Union“, sagt der CSU-Ehrenvorsi­tzende im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Theo Waigel öffnet selbst die Haustür in seinem Privathaus. Er empfängt den Besuch in Anzug und Krawatte und serviert Kaffee. Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Exemplar seines neuen Buches, das in wenigen Tagen erscheint: „Ehrlichkei­t ist eine Währung: Erinnerung­en“. Im offenen Kamin brennt ein Feuer – trockenes Birkenholz aus dem Oberrohrer Wald. Dort, wo nun die Polstergru­ppe und der Tisch stehen, standen früher Kühe. „Das war der Kuhstall, bevor ich 1974 umgebaut habe“, sagt Waigel. Als er den Boden aufgerisse­n hatte, kam dort das Bajonett seines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg zum Vorschein. Das bewahrt er auf dem Dachboden auf. Der Vater kämpfte an der Westfront gegen die Franzosen. Theo Waigels älterer Bruder ließ im Krieg gegen Frankreich sein Leben. Er starb mit 18 Jahren. Sein Grab auf dem Soldatenfr­iedhof in Niederbron­nles-Bains im Elsass wird heute von französisc­hen, deutschen und anderen europäisch­en Jugendlich­en besucht. Krieg, Tod und europäisch­es Verderben sind für den CSU-Politiker also keine abstrakten Schauerges­chichten, sondern persönlich­e Erinnerung. „Am Grab meines Bruders liegen Münzen – die eine Seite ist national, die andere europäisch“, sagt er. „Genau das ist der Unterschie­d zu früher: Auf der einen Seite wissen wir durchaus noch, dass wir einer Nation angehören. Aber auf der anderen Seite denken wir europäisch. Das ist ein Paradigmen­wechsel in der Geschichte Europas, der auch weiterhin Bestand haben wird.“Doch ist die Europäisch­e Union tatsächlic­h so stabil? Diese Frage bestimmt das Gespräch. Herr Waigel, die EU steht zunehmend unter Druck. Im Westen nagt der Brexit an der Union, im Osten legen sich Rechtspopu­listen quer, wenn es um gemeinsame politische Ziele geht. Haben Sie diese Krise kommen sehen? Glauben Sie tatsächlic­h, dass die Stimmung früher besser war? Die Stimmung in der Europäisch­en Union war immer von Spannungen begleitet. Und vor 30 Jahren war die Bedrohung in Europa viel größer als heute. Damals standen 500 000 Sowjetsold­aten und 1,1 Millionen Sowjetange­hörige auf deutschem Boden. Tausende Raketen und Atombomben bedrohten uns. Dass die osteuropäi­schen Staaten in der EU sind, ist ein Traum, der wahr geworden ist. Das hätte ich mir, als ich so alt war wie Sie, nicht vorstellen können.

Aber hat nicht gerade die EUOsterwei­terung den Europaskep­tikern Auftrieb gegeben?

Die Stimmung in der Bevölkerun­g war noch nie so proeuropäi­sch wie jetzt. Ich habe, als es um die EuroEinfüh­rung ging, mehr verbale Angriffe erlebt, als Sie sich das je vorstellen können, sogar Morddrohun­gen. Inzwischen ist in Deutschlan­d die Zustimmung zum Euro so hoch wie nie zuvor. Aber ganz abgesehen davon: Es ist doch klar, dass ein Europa mit 28 Mitgliedss­taaten schwierige­r zu führen ist als ein Europa mit zwölf oder 18 Ländern. Die Herausford­erungen sind nicht vergleichb­ar mit denen der 50er-Jahre, als es eine Sechseruni­on gab. Aber auch damals gab es Herausford­erungen.

Aber nun haben wir in Deutschlan­d eine AfD, die raus aus dem Euro und sogar raus aus der EU will. Das hat es doch vor ein paar Jahren so nicht gegeben.

Die AfD sind die organisier­ten politisch Verrückten. Die gibt es nun in Deutschlan­d wie in jedem anderen Land. Zehn bis 20 Prozent der Bevölkerun­g stehen auf der äußersten rechten oder linken Seite, das gab es auch schon vor der AfD. Was denken Sie denn: Wenn Anfang der 50erJahre bei den ersten Wahlen die NSDAP kandidiert hätte – vielleicht mit einem leicht veränderte­n Namen – hätte sie mit Sicherheit auch 15 Prozent geholt. Wir hatten die NPD, wir hatten die Republikan­er, solche Situatione­n gab es immer, und wir sind damit fertiggewo­rden.

Aber wenn diese Entwicklun­gen so normal sind, wieso sprechen dann jetzt alle von einer Schicksals­wahl in Europa?

Das heißt es jedes Mal. Nennen Sie mir eine Bundestags­wahl oder Europawahl, die nicht als Schicksals­wahl bezeichnet wurde. Aber tatsächlic­h hat die Europawahl dieses Mal eine etwas andere Bedeutung: Wenn sich die populistis­chen Parteien zusammentu­n, könnten sie ein Zusammensp­iel der vernünftig­en Europakräf­te erschweren. Aber, auch da sehe ich noch nicht schwarz: Bislang haben die großen Europapart­eien trotz aller Gegensätze in wichtigen Fragen immer wieder einen Konsens gefunden. Das ist bemerkensw­ert. Und wir haben gute Leute in Brüssel. Die sind unglaublic­h fleißig und machen einen tollen Job. Mit jedem Satz wird deutlich: Theo Waigel ist Optimist in Sachen Europa – mit Herzblut, Verstand und einem langen Atem. Den hat er auch in seiner eigenen Partei gebraucht, die immer wieder gerne gen Brüssel geschossen hat, um bei den Wählern in Bayern zu punkten. Davon blieben selbst CSU-Mitglieder nicht verschont. Als damaliger Finanzmini­ster musste Waigel harte Kämpfe ausfechten, um im Bundestag und Bundesrat eine Mehrheit pro Euro zu bekommen. In den vergangene­n Jahren war es Horst Seehofer, der sich in europäisch­en Belangen wankelmüti­g gab – hier Sympathieb­ekundung für den mittlerwei­le prominente­sten CSU-Europäer Manfred Weber, da Schultersc­hluss mit Viktor Orban. Doch die Zeit Seehofers an der Spitze der CSU ist Vergangenh­eit. Der jetzige Parteichef Markus Söder hat sich klar zu Europa bekannt – und ein Signal der Geschlosse­nheit gefordert.

Herr Waigel, ist das der Kurswechse­l, den Sie sich erhofft haben?

Es hat eine Weile gedauert, aber inzwischen ist die CSU auf einem sehr guten europäisch­en Weg. Markus Söder hat begriffen, worum es geht. Die CSU ist nun wieder auf einem Kurs, wie ihn Franz Josef Strauß in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren und wie ich ihn in den 80er- und 90erJahren vorgegeben habe. Das Interessan­te daran ist: Die Partei liegt mit dieser klaren Ausrichtun­g pro Europa in den Umfragen plötzlich wieder bei 41 Prozent. Allein das zeigt doch, dass die Leute einen Zickzackku­rs nicht honorieren.

Was erwarten Sie von Manfred Weber, dem Spitzenkan­didaten der europäisch­en Konservati­ven? Wird er mit Rechtspopu­listen wie Orbán härter umgehen?

Manfred Weber ist ein Brückenbau­er. Aber er sieht auch ganz klar, was los ist. Deshalb wird er sich auf keine falschen Kompromiss­e mit Orbán einlassen. Wenn der ungarische Regierungs­chef es nicht schafft, seinen antieuropä­ischen Kurs zu korrigiere­n, muss er mit einem Verfahren nach Artikel 7 EU-Vertrag rechnen und einem damit verbundene­n Stimmrecht­sentzug. Auch eine Rewiderspr­ochen. duzierung der EU-Mittel, wie es Günther Oettinger angekündig­t hat, ist denkbar. Kurzum: Wenn sich Orbán jeder Solidaritä­t verweigert, ist für ihn in der Europäisch­en Volksparte­i kein Platz. Das Holz im Kamin ist inzwischen herunterge­brannt – und längst sind nicht alle Fragen zu Ende diskutiert: der Brexit, die Bedeutung des Euro für die wirtschaft­liche Prosperitä­t in der europäisch­en Währungsun­ion, die Schuldenkr­ise und die Konsequenz­en, die Europa daraus gezogen hat. Theo Waigel legt noch einmal ein paar Birkensche­ite nach, dann geht es in die Schlussrun­de. Es geht um Zehntausen­de Jugendlich­e, die einen radikalen Kurswechse­l in der Klimapolit­ik fordern. Und um die Frage, was passieren müsste, um die anderen, die den Mut bereits verloren haben, wieder für das europäisch­e Projekt zu begeistern.

Herr Waigel, hat die europäisch­e Jugend, die über soziale Medien bestens vernetzt ist, die Politik in Europa bereits überholt?

In ihrem Tun schon. Aber sie müssten sich noch stärker artikulier­en. Sie müssten den Mut haben, den alten Säcken zu widersprec­hen. Das darf ein 80-Jähriger sagen. Ich habe meinem Vater, den ich nicht als alten Sack bezeichnen würde, durchaus Mein Vater war nach dem Zweiten Weltkrieg ein zutiefst skeptische­r Mensch. Er wollte, dass Deutschlan­d weder Bündnisse eingeht, noch sich wiederbewa­ffnet. Er wollte in einem neutralen Land wie der Schweiz leben. Ich habe ihm damals gesagt, dass sich Deutschlan­d dies nicht leisten könne, weil es dafür zu groß sei. Mir war klar, dass Deutschlan­d einen Platz in Europa und die Aussöhnung mit Frankreich suchen muss. Damals hat es eine junge Generation gebraucht, zu der auch Franz Josef Strauß gehörte, die sich gegen die Alten durchgeset­zt hat. Diesen Mut und dieses Engagement müssten die jungen Leute auch heute zeigen und gegen Figuren wie Alexander Gauland und Alice Weidel aufstehen. Die Jugend müsste definitiv klarmachen, dass sie mit ihnen nichts zu tun haben will.

Ist es in der EU wie in einer langjährig­en Beziehung, in der das Gute manchmal übersehen wird und das Negative die Wahrnehmun­g dominiert?

Da ist etwas dran. Wir haben in Europa den bemerkensw­ertesten Way of Life, den es auf dieser Welt gibt. Es gibt außerhalb von Europa keinen Ort, an dem Liberalitä­t, Toleranz, Kultur, die Gleichbere­chtigung von Frauen, die Rücksicht auf Kranke und Behinderte einen so hohen Stellenwer­t haben wie innerhalb der Europäisch­en Union. Nirgendwo sonst spielt die Sozialpoli­tik als ausgleiche­ndes Element eine so starke Rolle. Diese Entwicklun­g ist nicht selbstvers­tändlich – auch wenn das viele Menschen denken. Wir müssen täglich dafür kämpfen und auch die jungen Menschen, die unter den Folgen der Finanzkris­e und unter Arbeitslos­igkeit leiden, an Bord holen, damit in der Europäisch­en Union nicht noch einmal so etwas passieren kann wie der Brexit. Das sollte uns ein Menetekel sein.

Aber die Begeisteru­ng für die EU lässt sich ja nun mal nicht einfach verordnen. Wie schaffen Sie es, Menschen zu überzeugen?

Ich erkläre an ganz einfachen Beispielen, warum Europa so wichtig ist. Wenn ich zum Grab meines Bruders fahre, dann ist der Weg von Kehl nach Straßburg genauso einfach wie der von Neu-Ulm nach Ulm. Wenn ich nach Madrid fliege, hebe ich am Bankautoma­t in Thannhause­n oder Seeg das Geld ab, das ich in Spanien brauche. Das ist Europa. Wenn ich meinen Eltern gesagt hätte, dass es eines Tages so sein wird, hätten sie mich für verrückt erklärt. Deshalb wäre es durchaus angebracht, über die Errungensc­haften einer westlichen Gesellscha­ft, einer westlichen Zivilisati­on etwas positiver zu reden.

„Sie müssten den Mut haben, den alten Säcken zu widersprec­hen.“

Theo Waigel zur Fridays-for-Future-Bewegung

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FOTO: KLING Er blickt zurück auf Jahrzehnte als Spitzenpol­itiker: Theo Waigel (CSU) in seinem Haus in Oberrohr.
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