Heuberger Bote

Kreuzberge­r kämpfen für Aldi

Verkehrte Welt in Berlins Öko-Kiez

- Von Sven Braun und Andreas Rabenstein

(dpa) - Die Welt steht kopf in Kreuzberg. Früher gingen die Kiezbewohn­er gegen Kapital und Konzerne auf die Straße, der erste McDonald’s im Kiez wurde mit Steinen beworfen, ein Google-Campus verhindert. Jetzt wird wieder gekämpft. Doch die Fronten haben sich verschoben. Kreuzberge­r Linke und Alternativ­e werfen sich für einen AldiSuperm­arkt in die Bresche. Es wird demonstrie­rt und diskutiert. Fast flogen die Fäuste bei einer öffentlich­en Debatte. Es geht um viel: den Kampf um ein ganzes Stadtviert­el.

Der kleine Aldi-Markt ist Mieter in der Markthalle Neun im östlichste­n Teil Kreuzbergs, nahe der früheren Berliner Mauer. Ihm wurde gekündigt, ein Drogeriema­rkt soll folgen. Ein Teil der Anwohner fühlt sich düpiert. Es gehe um eine „bezahlbare Grundverso­rgung“in der Umgebung, steht auf Flugblätte­rn.

Kreuzberg – einst dunkel, dreckig und wild – ist inzwischen einer der teuersten Stadtteile Berlins. Und die Mieten steigen weiter. Die alte Markthalle aus dem 19. Jahrhunder­t wird seit 2011 von drei jungen Männern betrieben. Der Bau aus Stein und Eisenkonst­ruktionen in der Eisenbahns­traße beherbergt teure Biogemüses­tände und kleinere Restaurant­s. Außerdem einen Edelmetzge­r, Biobäcker, eine Gin-Theke, einen Käsestand und drei Weinbars, eine davon mit Austern. Am Wochenende und zum Streetfood-Thursday stehen Studenten und Touristen Schlange. Es gibt überfüllte Käse-, Wurst- und Dessert-Events mit Eintritt und Partystimm­ung.

Kürzlich bei der Diskussion zwischen Betreibern, ihren Unterstütz­ern und den Pro-Aldi-Kämpfern schwankt die Stimmung zwischen gereizt und offen aggressiv. „Eine Halle nur für Besserverd­iener“, ruft ein Mann in die Menge. Und ein Mitglied einer Anwohnerin­itiative betont: „Viele Menschen haben nie gesagt, wir lieben Aldi, aber wir stehen hier für eine Grundverso­rgung.“Tosender Applaus. „Wir wollen weiter in der Halle einkaufen“, fordert eine Initiative. Es müsse Schluss sein mit Touristen-Events und einer „LuxusFood-Porn-Halle“.

Angst vor Verdrängun­g

Es geht nicht nur um Aldi gegen Austern, Dosenbier gegen Gin. Das wissen auch die Betreiber der Halle, die von der Stimmung aber völlig überrascht wurden, wie sie sagen. „Wir teilen die Ängste vor Verdrängun­g und einer grassieren­den Gentrifizi­erung“, betonen sie immer wieder. Was Gentrifizi­erung bedeutet, haben viele Berliner in den vergangene­n Jahren gelernt. Aus günstigen Wohnungen wurden sanierte Unterkünft­e für Besserverd­iener, aus Kiezkneipe­n Bioläden. Mitbetreib­er Nikolaus Driessen, jung, Brille, Bart, sagt aber auch: „Wir wollen ein Ort sein für eine neue Lebensmitt­elkultur.“Essen sollte nachhaltig und gesund sein. „Und wo soll das funktionie­ren, wenn nicht hier in Kreuzberg?“

Unterstütz­ung bekommen die Betreiber vom angesagten Kreuzberge­r Sternerest­aurant Nobelhart&Schmutzig. „Die Menschen wissen gar nicht, wie schön essen sein kann“, schrieben die Sterneköch­e im Februar auf Facebook. Schuld daran seien auch die Discount-Supermärkt­e. Wer billige Lebensmitt­el kaufe, nehme außerdem in Kauf, dass jemand anders dafür leide. „Ist der Mann oder die Frau, die nur 1000 Euro zur Verfügung haben, mehr wert als der ausgebeute­te und über Subfirmen beschäftig­te Schlachter?“

Wie geht es weiter? Eine Rücknahme der Kündigung von Aldi lehnen die Markthalle­n-Betreiber weiter ab. Der Diskussion­sprozess soll aber weitergehe­n. Das gilt allerdings auch für spezielle Events wie den Oster-Naschmarkt und das Makrelenko­nserven-Tasting einer japanische­n Firma Ende April.

Die Versorgung mit billigen Lebensmitt­eln wäre auch ohne den umstritten­en Aldi gewährleis­tet: 200 Meter von der Markthalle entfernt steht ein Lidl-Supermarkt.

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