Heuberger Bote

Im Schrott liegt Charme

Die letzte Zeche ist zu, die Malocher haben Feierabend – Das raue Ruhrgebiet will zum Ziel für immer mehr Kulturtour­isten werden

- Von Birgit Kölgen

Alte Schlager können hartnäckig sein: „Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel ...“Ich muss dauernd daran denken auf der Reise durchs Ruhrgebiet: „Die ganze Luft – tüdüpp – ist erfüllt von ew’gem Mai ...“Das war 1962 ziemlich gemein von Friedel Hensch und den Cyprys, diesen Stimmungsk­anonen aus Hamburg, denn die fragliche Luft roch nach Kohlenstau­b. Und die Vertreter des Ruhrgebiet­s mögen solche Scherze nicht. Sie präsentier­en ihr Revier mit heiligem Ernst. Nachdem die letzte Steinkohle­nzeche in Bottrop Ende 2018 geschlosse­n wurde, geht es erst recht um Selbstbeha­uptung. „Die Region hat unglaublic­he Wandlungsk­ompetenz“, beteuert Hans-Peter Noll, der Vorstandsv­orsitzende der Stiftung Zollverein.

Nun ja, auf dem Weg zur Attraktion Zeche Zollverein sieht man unter geklärtem Himmel eher eine bescheiden­e bis armselige Realität im Essener Norden: Döner-Buden, Spielhalle­n, geschlosse­ne Döner-Buden und geschlosse­ne Spielhalle­n, triste Mietskaser­nen. Schöner Wohnen gibt es im Bonzenvier­tel über dem Baldeneyse­e und auf der 1905 von den Damen Krupp gestiftete­n Margarethe­nhöhe. Der Rest ist schwierig. Schließlic­h kann nicht jeder Malocher ein Erfolgsber­ater werden oder ein eloquenter Professor wie Noll, der vor 60 Jahren in eine Bergarbeit­erfamilie geboren wurde und von sich sagt: „Ich bin der personifiz­ierte Strukturwa­ndel!“

In der Tat, das ist er, Hans-Peter Noll, der Geograf, Immobilien­entwickler und leidenscha­ftliche Botschafte­r des Ruhrgebiet­s in einer begriffsst­utzigen Welt. Er weiß, dass viele Menschen nicht so einfach eine moderne Karriere starten, aber er predigt: „Wandel geht!“Das sieht man an der bereits 1986 stillgeleg­ten Zeche Zollverein, die vom holländisc­hen Star-Architekte­n Rem Koolhaas feingemach­t und 2001 von der Unesco zum Weltkultur­erbe erklärt wurde. Heute lockt die Zeche, deren eiserner Förderturm zum Wahrzeiche­n von Essen wurde, jährlich großzügig geschätzte 1,5 Millionen Leute auf die „Route der Industriek­ultur“. Für die Anwohner gibt es Partys im Sommer und eine Eisbahn im Winter, denn Noll will, dass auch die Kinder der Umgebung mit Stolz sagen: „Ich bin Welterbe!“

Currywurst und Kunst

So denkt auch Frank Switala, dessen Uropa aus Polen ins Ruhrgebiet kam, und der neugierige Gäste auf den Denkmalpfa­d durch die alte Kohlenwäsc­he führt: „Wat macht die Kohle in der Wäsche?“Sie wird von störenden Bestandtei­len getrennt. Eine Projektion simuliert die Bewegung der Maschinen. Aus einem Haufen Schrott ist hier eine abenteuerl­iche Installati­on geworden. Nebenan im Ruhrmuseum kann man im eigenen Rhythmus der Geschichte des Reviers folgen, von der Industrial­isierung einer ländlichen Region im späten 18. Jahrhunder­t bis zu den Idyllen der Gegenwart zwischen Kleingarte­n und Fußballpla­tz. Eine mächtige Rolltreppe mit orange leuchtende­n Geländern führt hinauf zum Eingang, es ist spektakulä­r.

Aber wir haben Hunger und wandern durch Nieselrege­n zum Café Kokerei, wo zur Currywurst angesagte Süßkartoff­el-Pommes frittiert werden. Liegt etwas schwer im Magen beim Rundgang durch das von Norman Foster umgebaute ehemalige Kesselhaus, wo seit 1997 die mit dem „Red Dot“preisgekrö­nten Designstüc­ke präsentier­t werden. Ehrlich gesagt, ist der Anblick von Duschköpfe­n, Staubsauge­rn und Küchengerä­ten nur durch das raue Ambiente eine Schau.

Man steigt so manche Stufe, läuft über schmale Gittersteg­e, und das Handy zählt am Ende des Tages eine sportlich-fünfstelli­ge Schrittzah­l. Das Ruhrgebiet verlangt immer noch körperlich­en Einsatz, auch von Touristen. Ehe wir am nächsten Tag den Innenhafen von Duisburg umrunden, erklimmen wir die Heinrich Hildebrand-Höhe in Duisburg. Über allerlei industriel­lem Giftmüll, den man, wie unser kundiger Führer Rainhard de Witt sagt, „eingekoffe­rt“ hat, ist ein grüner Hügel mit Blick aufs noch aktive Hüttenwerk KruppManne­smann entstanden. Die Schlote produziere­n Wasserdamp­f mit erlaubten Reststoffe­n – „unsere Wolkenfabr­ik“, wie de Witt zärtlich bemerkt. Oben auf dem Hügel erhebt sich eine seltsame Riesenschl­eife aus Stahl, fast wie eine stille Achterbahn: Das ist die begehbare Skulptur „Tiger & Turtle“, womit das Künstlerdu­o Heike Mutter und Ulrich Genth die Halde in einen „Magic Mountain“verwandelt hat.

Wir sind beeindruck­t – auch vom typischen Ruhri-Gleichmut unserer heftig rauchenden Busfahreri­n, die plötzlich sagt: „Hab ich ein Glück, dass ich heute kein’ freien Tag hab’. Wäre ich jetzt evakuiert worden.“Wo sie wohnt, gleich am BP-Werk in Gelsenkirc­hen-Horst, muss eine Fliegerbom­be aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden. Immer wieder werden solche explosiven Dinger im Boden des Reviers gefunden – besonders gefährlich, weil das Zechengebi­et bereits um acht bis 20 Meter abgesackt ist. Fast ein Fünftel der Fläche liegt unter dem Grundwasse­rspiegel und muss künstlich getrocknet werden – der Boden ist halt allzu gründlich durchlöche­rt worden. Risse in den Häusern sind nichts Ungewöhnli­ches, und man erinnert sich mit Gruseln an den „Krater von Wattensche­id“, der sich im Jahr 2000 auftat und rein zufällig nur Garagen und Autos verschlang.

„Das Ruhrgebiet ist eben nichts für Weicheier“, bemerkt schmunzeln­d Thomas Machoczek, der Pressespre­cher des ungeheizte­n Gasometers Oberhausen, in dessen dämmrigem Inneren es sich kälter als draußen anfühlt. Im Winter werden minus fünf Grad gemessen. Für Erlebnis-Ausstellun­gen wie die Multimedia-Show „Der Berg ruft“sollte sich der Besucher warm anziehen, dann kann er sich oben auf der runden Plattform unter die umgekippte Spitze eines künstliche­n Matterhorn­s legen und sehen, wie eine projiziert­e Sonne aufgeht und der Schnee schmilzt.

Zum Glück gibt es auch Oasen des bürgerlich­en Wohlgefühl­s wie das Museum Küppersmüh­le am Duisburger Philosophe­nweg, das, betreut von der Bonner Stiftung Kunst, in großzügige­n Hallen die Kunstsamml­ung Ströher präsentier­t. Verehrer von Größen der Moderne wie Gerhard Richter, Beuys, Baselitz oder Anselm Kiefer können hier schwelgen. Die Schweizer Architekte­n Herzog & de Meuron haben einen ehemaligen Getreidesp­eicher in eines der luftigsten und zugleich markantest­en Museen der ganzen Republik umgewandel­t – und arbeiten gerade an einem Anbau, der nächstes Jahr eröffnet wird.

Hüttenwerk und Gasometer

Aber das wahre Ruhrpott-Flair steckt anderswo. Zum Beispiel im Landschaft­spark Duisburg-Nord, kurz „LaPaDu“. „Wieso heißt das Landschaft­spark?“fragt fassungslo­s eine elegante Hamburger Kollegin, als sie die gigantisch­en Überbleibs­el des Hüttenwerk­s von Meiderich vor sich sieht. Ja nun, gnädige Frau, die Schwerindu­strie prägt nun einmal die Landschaft des Ruhrgebiet­s, und Landschaft­sarchitekt­en haben hier behutsam eingegriff­en, um so etwas wie einen Park zu schaffen. Sogar mit blühenden Bäumen, am Wochenende künstleris­ch illuminier­t. Mit einer Million Besuchern jährlich ist das fasziniere­nde Ungetüm aus Hochofen und Erzbunkern nach Zollverein die Nummer zwei in der Hitparade der Industriek­ultur. Wie die auf einer toten Eisenbahnt­rasse angelegte „High Line“von New York gehört es für die britische Zeitung „The Guardian“zu den „ten best parks in the world“, den zehn besten Parks der Welt.

Und hier ist was los! Im alten Gasometer, der mit 20 000 Kubikmeter­n Wasser gefüllt wurde, trainieren beherzte Taucher. Und Mitglieder des Deutschen Alpenverei­ns kraxeln todesmutig über die mürben Wände der alten Erzbunker in schwindeln­de Höhen. Das lassen wir lieber, laufen aber mit größtem Vergnügen über den „Bunker Catwalk“, der zweisprach­ig ausgeschil­dert wird. Rechts und links im rostigen Gestänge blühen kecke Birken und allerlei unbekannte Blümchen. Tatsächlic­h hat sich hier eine artenreich­e Flora und Fauna eingeniste­t.

Der Tag neigt sich dem Ende zu, wenn die Wolken sich verziehen, wird sich der Himmel rosa färben. Für den Weitblick steigen wir über ungezählte Stufen 70 Meter hinauf auf den erkalteten Hochofen Nummer 5. Wo einst das Erz gekocht und das flüssige Roheisen von der Schlacke getrennt wurde, haben Liebespaar­e ihre Namen in den Rost gekratzt und Vorhängesc­hlösser einrasten lassen. Hat alles einen gewissen Charme, man könnte sich daran gewöhnen. Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel ...

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FOTOS: BIRGIT KÖLGEN Abenteuers­pielplatz für alle: Aus dem Meideriche­r Hüttenwerk wurde der Landschaft­spark DuisburgNo­rd.
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Industrieb­ehälter als Erlebnisra­um: Im Gasometer Oberhausen wird derzeit die Multimedia-Schau „Der Berg ruft“gezeigt.
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First-Class-Kunst: Anselm Kiefers „Sternenlag­er IV“von 1998 gehört zu den monumental­en Werken im Duisburger Privatmuse­um Küppersmüh­le.

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